Lombardische Briefsammlung

Die Vorab-Edition von Heinz-Jürgen Beyer (Stand ca. 2010) wird nicht weiter bearbeitet. (Info)

74.

Abt P. von S. Benedetto (di Polirone?) an Subdiakon R.:
ermahnt ihn, Mönch zu werden.

Ü: V fol. 60r-61r.
D: -
R: Wattenbach S. 46-50 (zu 1132).

Abbas ad quemlibet fratrum

P.1) peccatorius monachus vocatus abbas sancti Benedicti licet indignus R. subdiacono fratri in Christo dilecto de Babilone ad Hierusalem properare.

Multis diebus iam transactis, quia corporali presentia te visitare non potuimus, lit[t]eris te visitare desidera[vi]mus; sed multis variis negotiis peccatis nostris exi[g]entibus impediti desiderium nostrum adimplere nequivimus. Nunc autem divina opitulante gratia aliquantulum sublevati te paucis alloqui destinavimus.

Sincere caritatis affectu te diligentes - ex ordine introiens cum evangelica sententia -, karissime, te, frater, alloquor:2) "Quid prodest homini, si universum lucratur mundum, anime autem sue patiatur detrimentum?" - "Quid sapientia, quid scientia, nisi fuerit Christi karitate condita?"3) Pauli memor esto sententie:4) "Huius mundi sapientia apud Deum computabitur stultitia." Quid valet hic mundus, quid gloria quodve triumphus? Qualescumque sumus, morte coequat humus. Ubi nunc Augustus Octavianus, qui Romanum auxit imperium, ubi avunculus eius Iulius Cesar, qui universam rem publicam totumque Senatum devicit et pene orbem terrarum totum subiugavit? Ubi Socrates, ubi Plato et Aristoteles et cuncti principes ac philosophi et precellentissimi viri, qui ab exordio mundi usque ad nostrum fuerunt, quorum corpora in pulverem sunt redacta, anime vero lubrica, vana et carnalia desideria sectantes eternis procul dubio comburuntur incendiis. Ecce, frater, respice et considera, quam maximo honore anime sanctorum, que fragile ac fluxum et caducum seculum relinquerunt, apud Deum habitant in celis, quorum corpora genu flexo ab ipsis imperatoribus venerantur in terris. Audi consilium sapientissimi Salomonis:5) "Ne tardes converti ad Deum neque differas de die in diem; subito enim venit ira Dei in filios diffidencie,"6) - ut enim ait beatus Augustinus:7) "Remedia conversionis ad Deum non sunt differenda ullis cunctationibus, ne tempus correptionis [besser: correctionis - wie Augustinus?] de tarditate pereat; stultum namque est, cum possis vulnus mortiferum sanare, in crastinum dilatare. Misericors namque Dominus, qui promisit indulgentiam penitenti, non spopondit diem crastinum dissimulanti."

Sicut igitur sepe te monuimus et tu sepe nobis promisisti; relinque miserum seculum, adhere Deo , [h]abitum sancte religionis assume, ut recte cum propheta possis dicere:8) "Mihi autem adherere Deo bonum est - ut inhabitem in domo Domini, in longitudinem dierum."9) Talentum a Domino tibi commisssum in terra non abscondas10) et cum lucro ad eum reportare studeas, quatinus beatam possis audire vocem:10) "Euge, serve bone et fidelis, intra in gaudium Domini tui!"

Abt an einen Klosterbruder

P., sündiger Mönch (und) Abt von St. Benedikt [= S. Benedetto Po?] genannt, obgleich unwürdig, (wünscht) R., dem Subdiakon und in Christo geliebten Bruder, aus dem (irdischen Sünden-)Babel ins (himmlische) Jerusalem zu (ent-)eilen.

Nachdem viele Tage schon verflossen waren, dass wir dich nicht mehr persönlich hatten sehen [wörtlich: besuchen] können, wollten wir dich mit einem Brief beglücken [wörtlich: aufsuchen]; aber da wir durch viele verschiedene Geschäfte, wie sie unsere Sündhaftigkeit (heraus-)fordert, gehindert waren, konnten wir uns diesen Wunsch (leider) nicht erfüllen. Nun aber, da wir Dank Gottes Hilfe ein wenig entlastet sind, wollen wir uns mit wenigen (Worten) dir widmen.

Mit dem Ausdruck herzlicher Liebe - der Ordnung halber mit einem Evangelienspruch beginnend - spreche ich dich, lieber Bruder, an: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?" - "Was (nutzt) Weisheit, was Wissen[-schaft?], wenn sie nicht auf der Liebe Christi gegründet ist?" Denke (auch) an den Satz von Paulus: "Die Weisheit dieser Welt wird bei Gott als Dummheit angerechnet werden." Was vermag diese Welt, welcher Ruhm und welcher Erfolg (ergibt sich)? Wie auch immer wir sein werden, im Tod macht (uns) der Erdboden alle gleich. Wo ist (jetzt) Augustus Oktavian, der das Römische Reich vergrößert hat, wo sein Onkel Julius Cäsar, der sich die ganze Republik und den ganzen Senat unterworfen und fast den gesamten Erdkreis unterjocht hat? Wo ist Sokrates, wo Plato und Aristoteles und alle Fürsten und Philosophen und all die hervorragenden Männer, die seit Erschaffung der Welt bis in unsere (Zeit) existiert haben, deren Körper zu Staub zerfallen sind, deren Seelen aber, die schlüpfrigen, eitlen und fleischlichen Wünschen nachgegeben haben, (nun) ohne Zweifel im (Höllen-)Feuer brennen. Da, Bruder, bedenke und überlege, wie die Seelen der Heiligen, die die brüchige und schwankende und hinfällige Weltlichkeit hinter sich gelassen haben, mit allerhöchster Ehre bei Gott im Himmel wohnen, währende ihre leiblichen (Überreste) gebeugten Knies selbst von den Kaisern verehrt werden. Höre den Rat des hochweisen Salomo: "Zögere nicht, zu Gott umzukehren, und verschiebe es nicht von einem Tag auf den anderen; denn der Zorn Gottes trifft die Söhne des Unglaubens ganz plötzlich," - wie nämlich (auch) der hlg. Augustinus sagt: "Die Heilmittel für die Umkehr zu Gott darf man durch keinerlei Zögerlichkeit aufschieben, damit nicht die Zeit für die Sühne durch Säumigkeit verrinnt; dumm ist es nämlich, wenn man eine todbringende Wunde heilen kann, (dies) auf Morgen zu verschieben. Denn der barmherzige Herr, der den Reumütigen Vergebung versprochen hat, hat dies nicht demjenigen zugesagt, der den morgigen Tag verpasst hat." [Die im vorliegenden lat. Text vorgenommene Umstellung der Worte verfälscht den Text gegenüber der ursprünglichen Augustinus-Aussage: "... hat dies demjenigen, der den (heutigen) Tag verpasst, nicht für Morgen zugesagt"...]

So also haben wir dich oft gemahnt und du hast uns oft Versprechungen gemacht; lass also die(se) elende Welt [seculum] hinter dir und hange Gott an, nimm das heilige Ordenskleid, damit du zu Recht mit dem Propheten [Psalmist Asaph] sagen kannst: "Mir aber tut es gut, mich zu Gott zu halten - auf dass ich wohnen darf im Hause des Herrn alle Tage." Das Talent, das dir von Gott anvertraut ist, darfst du nicht in der Erde verbergen, und du sollst dich bemühen, es ihm mit Gewinn zurückzugeben, damit du die selig(machend)e Stimme hören kannst: "Wohlan, guter und getreuer Knecht, geh ein in die Freude deines Herrn!"

  1. Zweifelhaft, ob es sich um den Abt des (bereits in den Briefen 68-69 genannten) Klosters S. Benedetto di Polirone handelt, da zeitgenössisch der Name H(einrich) anstelle von P(etrus?) zu erwarten wäre.
  2. Matth. 16, 26.
  3. Vgl. Matth. 13, 54 und 1 Cor. 1, 30.
  4. 1 Cor 3, 19.
  5. Eccli. 5, 8 f.
  6. Am Schluss Zitatüberschneidung mit Ephes. 5,6.
  7. Prosper Tiro, Liber sententiarum ex operibus S. Augustini delibatarum LXXI.
  8. Ps. 72, 28.
  9. Am Schluss Zitatüberschneidung mit Ps. 22, 6.
  10. Vgl. Matth. 25, 25.
  11. Matth. 25, 21.

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