Die Vorab-Edition von Heinz-Jürgen Beyer (Stand ca. 2010) wird nicht weiter bearbeitet. (Info)
Obwohl wir bei der Suche nach der Person des Verfassers vor allem auf Grund der späteren Überarbeitung mit Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Initialen rechnen müssten, kristallisiert sich auch in dieser Briefsammlung ein Leitfaden zur Erschließung des Verfassers heraus, der geradezu romanhafte Züge trägt und damit der Bildung und dem geistigen Niveau des Verfassers, das sowohl im informativen Gehalt der Sammlung als auch in Aufbau und Konzept des Werkes zum Ausdruck kommt, Rechnung trägt.
Auffallend häufig - in mindestens 20 Briefadressen - wird die Initiale G. verwandt. Zwei Brüder R. und G. korresponieren miteinander oder gemeinsam in den Briefen 52-53 und 58-59. Während ein Sohn oder Neffe R. ansonsten nicht mehr erscheint, begegnen wir G. wieder im Briefwechsel mit einem Oheim R. Ob dieser G. mit dem "G. filius Arduini" (Briefe 32-33) identifiziert werden darf, was ihn (künftig) bzw. seinen Vater (aktuell) zu einem im Bistum Parma begüterten Capitan machen würde -, ist kaum zu entscheiden, da uns die Briefmuster im Hinblick auf den Namen des Vaters ansonsten im Stich lassen. Zwar finden wir einen Briefwechsel Vater-Sohn in den Briefen 38-39 und auch die Initialen G. und A.; doch stehen sie diesmal unter umgekehrten Vorzeichen: Vater G. und Sohn A. Dass dies nicht als simple Vertauschung zu erklären ist, lässt sich aus der Vorlage (Brief 16 der Precepta Adalberts, der wohl über das Zwischenglied der Überlieferung, die Aurea Gemma, vermittelt wurde) erkennen, wo bereits die Eltern C(= coniunx ?) und G(= genitor ?) mit einem ungenannten Sohn korrespondieren. Aufgrund der "Penetranz" der Vorlage ist diese Briefadresse also nicht weiter verwertbar.
Selbstverständlich erscheint G. auch im Briefverkehr mit Freunden (Briefe 44-45) und sogar mit Gegnern (Briefe 46-47).
Von besonderer Wichtigkeit könnten jedoch die ersten Nennungen von G. überhaupt sein, und zwar in den Briefen 15-18 und 22-23. In den beiden letztgenannten korrespondiert der Student G. aus einem schwer identifizierbaren Ort mit dem Prior des Stiftes S. Maria in Portu; der Zusammenhang mit dem ravennatischen Stift lässt als naheliegende Interpretation des Ortsnamens an Sarsina denken. Dennoch bestehen gegen diese Interpretation gewisse Bedenken, weil im Mittelpunkt der Briefe 15-18 G. als Erzpriester von S. Maria di Casalmaggiore im Bistum Cremona steht. Zwar ist Klerikerfluktuation keine Ausnahmeerscheinung - die epistole formate (in dieser wie in anderen Briefsammlungen) sind Beleg genug dafür - und es ist keinesfalls zwingend, dass der Erzpriester auch seiner Herkunft nach aus dem Bistum Cremona stammen muss. Doch liefern uns die Briefe 52-53 ein gewichtiges Gegenargument: Hier bittet R. den Bruder G., während seiner Abwesenheit auf seine Familie zu schauen und zur Schuldentilgung eventuell ein Weingut "in Sabboneto" (Brief 52) zu verpachten bzw. zu beleihen. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass der Ort Sabbonetum mit dem nur wenige Kilometer von Casalmaggiore entfernten Sabbioneta zu identifizieren ist. Wenn aber die Familie des Erzpriesters ebenfalls im Cremonesischen begütert war, haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Herkunft des Erzpriesters selbst dort zu suchen. Von daher könnte es nahe liegen, den Genitiv "srne" (mit Kürzungsstrich) civitatis" aus einer Verlesung von "crne" zu erklären, womit ein weiterer Beleg für die Beziehung von G. zu Cremona gegeben wäre.
Wenn wir die mögliche Identifizierbarkeit der Person G. betrachten, weiterhin berücksichtigen, dass sie im erstmöglichen Brief (nach den offiziösen Schreiben) erscheint und dies im Zusammenhang mit den über Verfasser anderer Briefsammlungen feststellbaren Einzelheiten auswerten, so haben wir immerhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Hypothese, dass dieser G., Erzpriester von S. Maria di Casalmaggiore im Bistum Cremona und möglicherweise stadt-cremonesischer Herkunft, der Verfasser der sog. Lombardischen Briefsammlung ist - wenn nicht, wie wir weiter unten noch in Erwägung ziehen werden, seine Person von anderer ("Schüler"-)Seite bewusst in den Mittelpunkt des Interessesgerückt worden ist.
Erwähnt wurden bereits die unverkennbaren Beziehungen zur Aurea-Gemma-Gruppe, insbes. zur Aurea Gemma Willehelmi. Sowohl für die AG-Vorlage von 1115 als auch für den AGW-"Ableger" von 1126/27 ist als Entstehungsort Bologna anzunehmen. Die schulische Verwandtschaft zwischen AGW und der Lombardischen Briefsammlung hat bereits Wattenbach erkannt. Aufgrund des Zurücktretens der Stellung Bolognas zugunsten von Cremona in dieser Sammlung nahm er an, dass "vielleicht ... ein Schüler jenes Bologneser Lehrers [gemeint ist der AGW-Verfasser] oder gar derselbe, sich später nach Cremona begeben" hat.
In der Tat ist die Rolle, die Bologna in der Lombardischen Sammlung einnimmt, relativ unbedeutend; ein Hinweis auf das dortige Studium fehlt völlig. Der einzige direkte Studienhinweis findet sich in den Briefen 38-39, deren erster weitestgehend mit Brief 16 der (Bologneser) Precepta dictaminum des Adalbertus Samaritanus übereinstimmt. Doch ausgerechnet in diesem Schreiben bezeichnet sich der Student als Schüler eines magister Bernhard in Chartres, in dem wohl unschwer der berühmte Lehrer (und seit 1119 Kanzler) der Schule von Chartres wiederzuerkennen ist. Ob diese Notiz oder die bereits besprochene Adresse von Brief 23, wo G. vom Ravennatischen Stiftsprior P. als "scolasticus" bezeichnet wird, einen Hinweis auf den Ausbildungsgang des Verfassers geben können (oder gar sollen?), ist kaum mehr befriedigend zu beantworten. Wenn wir in diesem Zusammenhang versuchen, den Namen des Priors wiederherzustellen, so bleibt uns nur der Name des Priors Petrus, den wir in Ravenna mindestens von 1114 bis 1116, jedoch keinesfalls über 1125 hinaus finden. Das könnte bedeuten, dass der Verfasser sich immerhin vor 1125 in Ravenna aufgehalten hat und vielleicht dort studiert hat bzw. auf seinem Weg nach oder von Ravenna in Bologna mit dem Studium der Ars dictandi in Berührung gekommen ist.
Ziemlich fest steht jedoch, dass der Verfasser im Cremoneser Raum schreibt und dass nicht einmal so sehr die oft genug erwähnte Kommune Cremona das geographische Zentrum der erwähnten Namen bildet, sondern vielmehr der von uns angenommene Lebensraum des möglichen Verfassers, der Ort Casalmaggiore, um den sich zunächst in einem engen Ring (Cremona, Piacenza, Parma, Reggio, Modena, S. Benedetto/Po) der Handlungsraum der Briefe abgrenzen lässt, der jedoch durch einen zweiten, weiter gespannten Bogen (Pavia, Verona, Ravenna) ergänzt wird (vgl. KARTE nebenan). Und so ist es vielleicht nicht abwegig anzunehmen, dass der Verfasser nicht einmal in Cremona selbst, sondern vielleicht an seinem Amtssitz die Sammlung zusammengestellt und vielleicht auch dort - wenn überhaupt - unterrichtet hat.
Die Nennung von Bistum bzw. Stadt Cremona (in mind. 17 Briefen) ist überdurchschnittlich hoch und lässt schon deshalb die Entstehung der Briefsammlung in diesem Raum annehmen. Eine Auswertung sämtlicher "lombardischer" Ortskoordinaten (nach Häufigkeit in den Briefen gewichtet) führt uns im Zuge einer statistischen Auswertung [s. Anhang ...] zu einem geographischen "Zentrum", das sich etwa 33 km östlich von Cremona und 20 km südlich davon befindet. Bemerkenswerterweise liegt dieser (errechnete) Punkt exakt "auf halber Strecke" zwischen Casalmaggiore, dessen Erzpriester G. uns in vier Briefen begegnet, und Viadana, dessen Priester bzw. Kapellan Johannes immerhin in drei Briefen begegnet, und zwar als Korrespondenzpartner bzw. Vertreter (auf einer Synode) des genannten Erzpriesters G. (von Casalmaggiore). Es spricht (neben weiteren hier zu übergehenden Indizien) viel dafür, dass eine dieser beiden Personen der Verfasser der Lombardischen Briefsammlung ist.
Der Verfasser hat auf die vielfältigen Variationen studentischer Korrespondenz verzichtet und sich auf Themen von überregionalem und auch gesteigertem lokalem Interesse konzentriert. Seine Briefe sind nicht kontemplativ, seine Petitionen nicht servil oder devot. Die ihnen innewohnende Dynamik in Verbindung mit der Ausführlichkeit in Details - was einem schlichten Briefsteller für den Schulgebrauch zuwider laufen würde - offenbart mehr literarische Ambitionen als Interesse an schulischer Nachahmung. Sein Informationsstand ist überraschend gut und aktuell, ohne dass er sich jedoch den Anforderungen historischer Genauigkeit unterwirft. Die Darstellung ist durchzogen von novellistischen Elementen. Und so deutet vieles darauf hin, dass diese Lombardische Briefsammlung ist, die nicht in erster Linie im Hinblick auf ihre praktische Verwendbarkeit oder gar ihre Werbewirksamkeit bei Studenten gemacht ist; sondern hier war meines Erachtens erstmals ein Literat am Werk, der seinen Zeitgenossen in journalistischer Manier ein aktuelles Feuilleton mit Nachrichten aus Politik, Kirche und Gesellschaft geboten hat - ein Werk, das möglicherweise nicht unter dem ökonomischen Zwang des Broterwerbs (durch Artes-Unterricht) gestanden hat und deshalb wohl seine Themen auch ungezwungener gestalten konnte.
Offen lassen müssen wir weiterhin die Frage nach der Identität des Verfassers. Auch wenn uns die Statistik immerhin in die Nähe seines Lebensmittelpunktes geführt hat, so bleiben es doch zwei Personen, auf die die genannten Kriterien zutreffen können: der Erzpriester G. von Casalmaggiore oder sein "Untergebener" bzw."Schüler", der Kapellan Johannes von Viadana. - Vielleicht wird einmal ein weiterer Quellenfund zusätzliches Licht in dieses Ambiente bringen...
Dass diese Briefsammlung offenbar nicht die Beachtung, die sie verdient gehabt hätte, und auch keine weitere Verbreitung gefunden hat, ist wohl gerade darauf zurückzuführen,
- dass ihr einerseits der "theoretische Unterbau" fehlte, der sie zum Schul- oder gar Studienobjekt "erhoben" hätte, und
- dass andererseits ihre Themen so zeitgenössisch "aktuell" waren: denn - wie jeder Zeitungsleser weiß - nichts ist kurzlebiger als die Aktualität von gestern...