Drei Einzelabschriften des 18. Jh. im Pfarrarchiv von Sant’Agata in
Cremona (B, C und D). – Abschrift des 19. Jh. von der Hand Ippolito
Ceredas in Dragonis (1778–1860) CD capituli Cremonensis p. 373–374 in
der Biblioteca governativa zu Verona (E).
Drucke: Stumpf, Acta imp. 97 no
87 “Aus einer Abschrift im Notariatsarchiv zu Cremona durch Ippolito
Cereda” (s) = Falconi, Le carte Cremonesi 2,78 no
256.
Reg.: Astegiano, CD Cremonese 1,97 no
19. – Knipping, Kölner Reg. 2,13 no
80. – Falconi, Per un codice diplomatico di S. Agata di Cremona 30 no
10. – Stumpf
Reg. 3059.
Die Vorlage Stumpfs konnte in dem heute im Staatsarchiv Cremona verwahrten
Notariatsarchiv nicht ermittelt werden; auch Falconi, der dem Druck Stumpfs folgt und (an beiden angegebenen Stellen) außer E nur eine der drei
Abschriften des Pfarrarchivs zu nennen vermag, vermerkt zu Stumpfs Vorlage deren heutigen Verlust (“oggi dispersa”). Wir haben
einerseits Stumpfs Lesungen in den Anmerkungen notiert, andererseits wurde im Druck
seine e-caudata-Schreibung übernommen, die sich auch in C, noch um
einige, ebenfalls im Druck berücksichtigte Stellen (s. Anm. a)
erweitert, wiederfindet; B und D verwenden durchwegs
æ- (B) bzw.
æ- (bzw.
oe-)Schreibung (D), während E immer nur einfaches
e bietet.
Unter Verwendung eines Empfängerkonzepts verfasst von Notar Adalbert A
(s. Hausmann, Reichskanzlei 65 no
28) und von diesem, wie aus der Zeichnung des Monogramms zu
schließen, wohl auch geschrieben. Die Diktatanteile sind nicht
vollkommen zu scheiden: Dem Notar sind mit Sicherheit Protokoll,
Publikatio, Intervenientenformel und Eschatokoll zuzuordnen,
vermutlich auch die zweimalige starke Betonung der Ergebenheit
gegenüber der römischen Kirche (S. ■ Z. ■ und ■); wem die singuläre
Arenga, die weitgehend aus dem Brief Gregors I. an Kg. Chlothar II.
von 601 Juni (Ep. Greg.I. 2,323 ep. XI,51) geschöpft ist (= VU.I),
zuzuweisen ist (das
dei causa scheidet als Hinweis auf die Verfasserschaft des Notars hier aus, s.
dazu Vorbemerkung zu D.5), lässt sich angesichts ihrer
Vorlagen-Abhängigkeit ebenso wenig beantworten wie die Frage nach der
Herkunft dieser Vorlage.
Der Empfängerentwurf umfasste in erster Linie wohl die eigentliche
Dispositio, wo verschiedene Termini in den Pertinenzformeln (z.B.
domicultibus, fictis und
terris fictaliciis, stallareis) und in der Verbotsformel (u.a.
actionarius) für einen Italiener als Verfasser sprechen. Ob dieser sich dabei auf
ältere Urkunden für Sant’Agata stützte, scheint fraglich, da das
Archiv der noch jungen Institution im Jahre 1111 noch nicht viel mehr
enthalten haben dürfte, als heute noch erhalten ist: Außer den beiden
in Anm. 1 zitierten Urkunden (aus denen sich ergibt, dass 1077 die
Kirche noch nicht geweiht war und dass, wie die Inskriptio der Littera
P. Gregors VII. zeigt, noch keine geistliche Gemeinschaft bestand)
sind es drei weitgehend identische Papsturkunden, die Privilegien P.
Urbans II. von 1088 Oktober 29 und 1095 März 31 (It. pont. 6.1,279f. no
2 und 3; Falconi
a.a.O. 2,38 no
234 und 44 no
237), die beide in der Inskriptio noch keinen Propst, sondern
Laurentius archipresbiter sancte Agathes nennen, sowie das an den vermutlich ersten (obwohl in den beiden
Urban-Privilegien bereits die – wohl ganz formelhafte – Klausel
Obeunte te nunc eiusdem loci preposito enthalten ist) Propst
Dominicus (noch genannt in Urkunde B. Oberts von Cremona von 1120 Januar 24, Falconi
a.a.O. 2,114 no
277; im Privileg P. Calixts II. von 1122 April 15, It. pont. a.a.O. no
5, Falconi
a.a.O. 2,121 no
282 ist dann Propst
Adam genannt) gerichtete Privileg P. Paschals II. von 1106 November 21 (It.
pont. a.a.O. no
4; Falconi
a.a.O. 2,72 no
253); wegen der Nennung des Propstes haben wir die spärlichen
Übereinstimmungen mit dem Privileg von 1106 (= VU.II) durch Petitsatz
gekennzeichnet, obwohl die unmittelbare Benützung nicht gesichert ist
und in den beiden älteren Privilegien vereinzelte zusätzliche
Parallelen anzutreffen sind.
Während des mehrtägigen, für Mai 19–22 urkundlich belegten, aber
vermutlich schon etwa seit der Monatsmitte dauernden Aufenthalts des
Hofes in Verona zum Abschluss des 1. Italienzuges, der auch die Feier
des Pfingstfestes am 21. Mai (= Datum des D.78) einschloss, war eine
Reihe von Angelegenheiten zu erledigen: Hier erfolgte unter Heinrichs
Vermittlung der Friedensschluss zwischen Venedig und Padua (s. D.77),
das Heer war vor der Brenner-Überquerung zu versorgen (zur
“zentralörtlichen” Funktion Veronas für die Anlieferung des Servitium regis zumindest aus der Mark
Verona-Treviso vgl. DD.120 und 121 für den Bischof von Treviso von
1114) und zugleich dessen Teilauflösung durch die Entlassung des
italienischen (vermutlich auch des böhmischen, s. Meyer von Knonau, Jahrb 6,180 Anm. 91) Kontingents zu bewerkstelligen; dann scheint
der Aufbruch ziemlich unvermittelt erfolgt zu sein, da das D.80 für
das Veroneser Kloster S. Nazzaro erst hernach am 24. Mai bei Garda
ausgefertigt wurde.
Die in Verona getroffenen Maßnahmen zeitigten nun eine ungewöhnlich
reiche Produktion der Kanzlei mit insgesamt 6 dort ausgestellten
Diplomen (neben D.74 noch DD.75–79); die Zahl dürfte sogar noch
wesentlich größer gewesen sein, denn neben den beiden, angesichts der
schlechten archivischen Überlieferung von Diplomen für private
Empfänger mehr zufällig erhaltenen DD.75 und 76 werden sicherlich
andere ebenso verdiente italienische Teilnehmer am Romzug bei ihrer
Verabschiedung vergleichbare Belohnungen in urkundlicher Form erhalten
haben.
Von den diesen in Verona ausgefertigten 6 Diplomen weisen allein 4
(DD.74–77) das gleiche Tagesdatum des 19. Mai auf; obwohl es zunächst
unmöglich erscheint, unter diesen eine relative Chronologie
herzustellen, gibt es dafür dennoch einige Anhaltspunkte: Zunächst
nennen nur zwei von ihnen, DD.76 und 77, Verona selbst als Ort der
Handlung (actum est Verone), während die Handlung der beiden anderen, DD.74 und 75, vor dem
Eintreffen in der Stadt lag (actum est iuxta Veronam); womöglich war mit dem
iuxta Veronam, was einen entfernter liegenden früheren Etappenort ausschließt, die
Pfalz des westlich der Stadt auf dem anderen Etschufer gelegenen
Klosters S. Zeno gemeint (vgl. dazu Brühl, Fodrum 1,471 Anm. 96), da Heinrich sich, vermutlich über Mantua
(vgl. Vorbemerkung zu D.72), von Südwesten her der Stadt genähert
hatte. – Jedenfalls ergibt sich damit für DD.74 und 75 eine
uneinheitliche Datierung, mit Ausfertigung am 19. Mai in Verona und
früherer, wenn auch vermutlich nicht allzu lange zurückliegender
Handlung.
Dafür liefern nun die unterschiedlichen Jahreskennzahlen der 4 Diplome
vom 19. Mai eindeutige Indizien: Sie weisen zwar insgesamt die vom
Notar seit Beginn des Jahres 1111 (s. D.62) verwendeten falschen
Zahlen für Ordinations- und Regierungsjahre auf (s. hier Anm. 2 und
3); während aber DD.74 und 75 außerdem die frühere, ebenfalls falsche
3. Indiktion bieten, erscheint in DD.76 und 77 die richtige 4.
Indiktion, wie sie dann auch weiterhin in DD.78ff. verwendet wird. Da
es unvorstellbar ist, dass der Notar, nachdem er seine
Indiktionsrechnung berichtigt hatte, nochmals (am Tage der
Korrekturvornahme!) auf die falsche Indiktion zurückgegriffen hätte,
sind DD.74 und 75 die der Genese nach früheren Stücke, waren
vielleicht sogar schon bis auf das erst in Verona mit ihrer
Ausfertigung eingetragene Tagesdatum (das dann in den verlorenen
Originalen nachgetragen gewesen sein müsste) vorher mundiert gewesen.
D.74 weist nun noch eine weitere, mit den geschilderten
Datierungsunterschieden der vier Diplome vom 19. Mai sich nicht voll
deckende, nur mit dem zu dieser Gruppe zählenden D.77 und den beiden
anderen noch in Verona ausgestellten DD.78 und 79 sowie dem oben
erwähnten D.73 gemeinsame Besonderheit auf, nämlich das Fehlen des
Vollziehungsstriches im Monogramm (s. hier Anm. bn); die Erklärung
könnte sein, dass die den Abschluss der Ausfertigungen bildende
Besiegelung dieser Stücke, womöglich in einem einzigen Arbeitsgang,
erst mit Verzögerung erfolgte und dabei die Vervollständigung des
Monogramms versehentlich unterblieb.
Zum Fodrum, worunter hier, da nur beim Aufenthalt des Herrschers
fällig, allein das königliche Gastungsrecht zu verstehen ist, vgl. Brühl
a.a.O. 1,538 Anm. 474 (s. noch 544 Anm. 502).
Umfangreiche Versatzstücke, namentlich Arenga, Verbotsformel und
Sanktio, daneben Formulierungen aus Publikatio, Narratio, erstem Satz
der Dispositio und Korroboratio fanden Eingang in das in der 1. Hälfte
des 12. Jh. gefälschte DLu.II. † 70 (= NU.) von angeblich 852 Januar
29 für die Kirche
sancti Stephani protomartiris scita Ripa Alta (Santo Stefano Lodigiano prov. Milano; vgl. It. pont. 6.1,256f.: Santo
Stefano al Corno), dessen im Registrum magnum von Piacenza (1198–1212)
überlieferte Abschrift auf einem notariellen Vidimus wohl des fünften
Jahrzehnts des 12. Jh. (einer der Notare nennt sich
iudex ac missus Konrads III.) beruht; nachdem das Falsum neben dem Eschatokoll auch
das Tagesdatum dem echten DLu.II.4 von (852) Januar 29 für die
bischöfliche Kirche von Cremona entnommen hat (mit willkürlicher
Änderung des Ausstellortes Sospiro zu Pavia), muss der Fälscher wohl
in Cremona tätig gewesen sein, wo ihm außer den dortigen Archiven
leicht auch das Diplom für das ca. 18 km w. Cremona gelegene Santo
Stefano zugänglich gewesen sein könnte; an ein Deperditum Heinrichs V.
(für Santo Stefano?) als Vorlage für das DLu.II. †70 zu denken, wie in
der dortigen Vorbemerkung alternativ vorgeschlagen, erscheint
unbegründet.