Die Urkunden Heinrichs V. und der Königin Mathilde
<<71.>>

Heinrich überlässt der Stadt Turin wegen der erwiesenen Treue die von jenseits der Alpen über Sant’Ambrogio di Torino nach Rom führende Reichsstraße und die Gerichtsbarkeit über die durchziehenden Pilger und Kaufleute.

Sutri, 1111 (nach April 15) – (April 22).

Vorbemerkung Thiel, Stand: 2010

Notariell beglaubigte Abschrift aus der 2. Hälfte des 14. Jh. im Stadtarchiv zu Turin (B). – Unbeglaubigte Abschrift derselben Hand ebenda (C). – Unbeglaubigte Abschrift aus dem Ende des 14. Jh. ebenda (D).

Faks. von B: Chiaudano in “Torino”, Rassegna mensile della città 18 no 5,24. – Torino, Immagini e documenti dell’archivio storico del comune 2f.

Drucke: Ferrero, Istoria di Torino 2, Annot. 88 no 15 (f) “Ex Archi. Civitatis” (= wohl aus D; vgl. z.B. Anm. p, s und bes. Anm. b”). – Guichenon, Histoire généal. de Savoye 12.6,30; 24.1, preuves 30 (g) Auszug “tirée des archives de ladite Ville”, mit “apud Sutrium in castris” (s. Anm. u’). – Aus B: Mon. patr. chart. 1,737 no 444 = Barelli in Boll. stor.-bibliogr. subalpino 12,103 Anm. 3 Auszug. – Cognasso, Documenti di Torino 5 no 5, alle zu 1111 März 23.

Reg.: Moriondo, Mon. Aquensia 2,316 no 38. – Carutti, Reg. com. Sabaudiae 92 no 252 “apud Sutrium”. – Inventario degli Atti dell’Archivio comunale 1,9 no 1. – Böhmer Reg. 1997 “apud Sutrium in castris”. – Stumpf Reg. 3052 “Intra”, alle zu 1111 März 23.

Das notarielle Transsumpt, das wegen der Nennung des Turiner Bischofs J. (= Johannes Orsini de Rivalta, 1364–1411) in der notariellen Unterfertigung frühestens in das 7. Jahrzehnt des 14. Jh. gehört, ist womöglich nur ein Entwurf, da der Notar in seiner Unterfertigung zu den von anderer Hand geschriebenen Abschriften von weiteren infrascripti notarii publici spricht, deren Unterfertigungen jedoch fehlen. – Auf dem mit unserem D. eröffneten Pergamentblatt folgen noch das DH.V.190 und das DLo.III.106 von 1136 (B.-Petke Reg. 542), die alle drei den gemeinsamen Fehler aufweisen, dass sie von den im Original sicher vorhanden gewesenen zwei Unterfertigungszeilen nur die jeweils in mittlerer Höhe des Monogramms eingetragene Signumzeile (s. Anm. r’) übernahmen; das in BCD jeweils in voller Größe im Freiraum zwischen Kontext und Datumzeile eingezeichnete Monogramm ist in allen drei Texten (von diesen fehlt D.190 in D) schematisch vor invictissimi plaziert.

Das Bild der erhaltenen Überlieferungen spricht dafür, dass CD auf B zurückgehen, doch kommt auch eine “originalere” Parallelfassung von B (s. oben) als Vorlage von CD in Betracht. Da auch die Vorlagen-Abhängigkeit der beiden ältesten Drucke letztlich unentschieden bleibt, wurden deren Varianten in den Anmerkungen berücksichtigt: Während Ferrero (f) vermutlich von D abhängt, könnte für Guichenon (g), dessen starke Umstellungen, Auslassungen und Umformulierungen innerhalb seines knappen Auszugs (s. Anm. t, c’, e’, f’) ein Urteil erschweren, namentlich angesichts seiner beiden über den Text von BCD hinausgehenden Informationen (s. Anm. w und u’, vgl. auch Anm. y’) eine andere verlorene Vorlage vermutet werden.

Verfasst von Notar Adalbert A; vgl. Hausmann, Reichskanzlei 65 no 24, mit prinzipiell richtiger Zuweisung zu “1111 (IV) 22, (Sutri)” (zur Beschränkung dieses Datums auf die Beurkundung vgl. weiter unten). – Ganz offensichtlich allein eine spielerische Zutat des Notars ist die, von den Kopisten als et palatinus verlesene Erweiterung der Intitulatio um et patritius (s. Anm. c), die er nochmals in D.75 aufgreift. Da deren Herleitung aus einer älteren Vorurkunde in beiden Fällen ausscheidet, ist in Erwägung zu ziehen, wenn auch relativ unwahrscheinlich, dass sich der Notar an das Vorkommen dieses Zusatzes in dem zwar nicht von ihm stammenden, aber sicherlich vor der Ausfertigung durch seine Hand gegangenen D.36 erinnerte; den äußeren Anstoß dazu, dem Herrscher den Titel eines patritius (Romanorum) zuzulegen, lieferte jedoch ohne Zweifel die eine Woche zurückliegende Kaiserkrönung vom 13. April, die mit der Übertragung des Patriziats durch die Römer verbunden war (vgl. dazu D.70 Anm. s” u. nr). Zu den drei Diplomen vgl., ohne weiterführende Bewertung, Merta in Intitulatio III, 197 mit Anm. 162–164. Den von Karl dem Großen eingeführten Zusatz et patritius, den dieser nur bis zur Kaiserkrönung (versehentlich auch noch in dem ersten als Kaiser ausgestellten Diplom, DKar.196 von 801) verwendet hatte, konnte man danach zunächst allein in Fälschungen antreffen (s. DLo.I.†141 [mit serenissimus Romanus patricius] und DKa.III.†184, ferner in den verfälschten Intitulationen der beiden Fuldaer DLD.78 und DKa.III.97), in nachkarolingischer Zeit nur noch in DH.IV.408 für Stablo (vgl. dazu D.49 Anm. d) und in dem gefälschten DH.IV.†453 für Porto (vgl. noch das patritius Romanorum in den interpolierten Invokationen von DD.O.I.252 u. 425 für Kl. Lorsch).

In der Datierung ist das aprilis (s. Anm. w’) sicher keine Verlesung der Kopisten, sondern eine dem Notar unterlaufene versehentliche Einsetzung des Namens des laufenden Monats statt des durch die Kalendenrechnung geforderten maii. Die Berichtigung ergibt sich nicht nur aus der Verwendung des Kaisertitels in Intitulatio, Signumzeile und Datierung, sondern auch aus dem Monogramm, dessen durch die Kopisten freilich entstellte Gestalt (s. Anm. s’) der nach der Kaiserkrönung eingeführten neuen Zeichnung entspricht (erstmals einwandfrei in D.72; in DD.73, 74, 77–79 fehlt gleichfalls, wie in D.71, der Vollziehungsstrich). Merta a.a.O., die an der falschen Datierung auf den 23. März – übrigens dem Datum des iuxta Romam entstandenen D.69! – festhält (Anm. 162), versucht dies mit der abwegigen Vorstellung eines “zumindest fallweisen Gebrauchs des Kaisertitels” durch die Kanzlei schon vor der Kaiserkrönung zu retten.

Gegenüber dem bei Stumpf als Handlungsort angegebenen, vom Itinerar her unmöglichen Intra am Westufer des Lago Maggiore (com. Verbania prov. Novara) ist das ins Itinerar passende, reichlich 40 km nw. Rom gelegene Sutri, wo Heinrich auch schon auf dem Hinweg Station gemacht hatte (s. D.66 vom 9. Februar), sowohl durch die, von wo auch immer gewonnene, Angabe Guichenons (s. Anm. u’) als auch durch den handschriftlichen Befund (s. Anm. b”) gesichert; vgl. zu dieser Korrektur schon Vorbemerkung zu DLo.III.106.

Im übrigen ist bei D.71 von uneinheitlicher Datierung auszugehen; denn aufgrund der zeitlichen Gegebenheiten des weiteren Itinerars kann die Beurkundung am 22. April erst erfolgt sein, als der Hof Sutri schon lange verlassen hatte, während die dortige Handlung wohl bald nach dem 15. April anzusetzen ist, vgl. dazu Thiel S. ■. – Die Ungereimtheiten der überlieferten Datierung waren für Bresslau, Jahrb. Ko.II.1,406 Anm. 3 der Grund dafür gewesen, D.71 als “stark verdächtig” zu erklären und daher auf seine Verwertung für den hier erstmals als solcher bezeichneten Markgrafen Rainer von Monferrato (vgl. Settia in Boll. stor.-bibliogr. subalpino 73,515f.) zu verzichten; die Zweifel an der Echtheit des D.71 wurden von Hellmann, Grafen von Savoyen 36 Anm. 2 und von Previté Orton, Early history of Savoy 279 Anm. 3 aufgegriffen, jedoch von Usseglio, Marchesi di Monferrato 1,123f. zurückgewiesen und in der Vorbemerkung zu DLo.III.106 mit dem Hinweis auf die engen Diktatbeziehungen des D.71 zu D.72 ausgeräumt.

Die Formulierung der Dispositio muss als wenig gelungen bezeichnet werden. Das dem stratam zugeordnete eundo et redeundo gehört sachlich eigentlich zu den transeuntes peregrini ac negociatores. Unpräzise ist auch die Formulierung über die “Unterstellung” (retinendam … concessimus atque firmavimus) der strata publica, womit die nach Norden zum Mont Cenis und nach Osten über Vercelli-Pavia-Piacenza weiterführende “Via Francigena” gemeint ist; zu deren Verlauf vgl. Renouard in Boll. stor.-bibliogr. subalpino 61,244 sowie Sergi ebenda 76,410 und Ders., Potere e territorio 31 (mit Carta I), zu ihrem weiteren Verlauf über Lucca bis Rom vgl. Schrod, Reichsstrassen 27ff.

Wegen der unklaren Formulierung des Textes ist sich die Literatur, soweit sie überhaupt auf das Problem eingeht, insbesondere über die Bedeutung der Erwähnung des ca. 25 km w. Turin am Eingang zum Valle di Susa gelegenen Sant’Ambrogio uneins; während Sergi (in Boll. 77,168f. und in Potere 79f.), wie offenbar vorher schon andere (z.B. Darmstädter, Reichsgut 211, Schaube, Handelsgesch. 335 und Tyler, The Alpine passes 164), an die Unterstellung der ganzen Straße zwischen Turin und dem Mont Cenis denkt, mit der Ortsangabe als bloßem Hinweis auf Richtung und Verlauf, ist Tabacco in Die Alpen in der europ. Gesch. 239 der Auffassung, es handle sich nur um das Straßenstück zwischen Turin und Sant’Ambrogio. Zu dieser Deutung passt am ehesten auch der Schluss-Zusatz des DLo.III.106, da das dortige Verbot einer Verlegung der Straße (ut strata penes ipsos sit nullusque alias eam divertere audeat vel presumat) darauf abzielt, die Straße mit der – ebenfalls ganz unbestimmt gelassenen, zumeist als Gerichtsbarkeit (und Zoll) gedeuteten – iusticia im Hoheitsbereich von Turin zu erhalten, so dass auch in D.71 Sant’Ambrogio am wahrscheinlichsten als westlicher Endpunkt des Verlaufs innerhalb des Turiner Hoheitsgebietes verstanden werden kann.

Die Intervenientenliste unseres D. bildet für einige Personen den einzigen Beleg ihrer Teilnahme an Heinrichs 1. Italienzug: Dies gilt in erster Linie für B. Eberhard I. von Eichstätt; für die Richtigkeit der Nennung (Barellis Druck bietet unerklärlicherweise die Lesung Berardi Costantiensis!) spricht einerseits die Tatsache, dass Eberhard sowohl kurz vor Beginn des Zuges (s. Vorbemerkung zu D.334) als auch kurz nach dessen Beendigung (s. D.87 von 1111 August 8) bei Heinrich weilte, und andererseits der Befund, dass Heidingsfelder (Eichstätter Reg.), dem unser Beleg aufgrund der falschen Lesungen der Drucke entgangen ist, für die Zwischenzeit keine einzige Nennung Eberhards kennt.

Die Intervention der vier Piemonteser Markgrafen bzw. Grafen, von denen nur Markgraf Rainer von Monferrato (s. DD.168 u. 187; vgl. oben) sowie Graf Albert von Biandrate (s. D.70/V: einer von Heinrichs Eidhelfern) auch anderweitig am Hof nachzuweisen sind, erklärt sich aus deren Interesse an dem für die lokalen Verhältnisse wichtigen Inhalt von D.71.

Demgegenüber kann die von Guichenon überlieferte – evtl. von ihm erfundene – Petenten-Rolle des Grafen Amadeus III. von Savoyen (s. Anm. w) außer wegen der übertrieben wirkenden Bezeichnung als consanguineus noster charissimus (zur Verwandtschaft vgl. D.226) schon deshalb keine Glaubwürdigkeit beanspruchen, weil nach seinem Text umgekehrt die eigentlichen Intervenienten zu bloßen Zeugen (praesentes, s. Anm. f’) degradiert wären. Während Kallmann in Jahrb. f. Schweiz. Gesch. 14,63f., der sogar an zwei verschiedene unserem D. zugrundeliegende Urkunden denkt, die von Guichenon gebotene “Fassung” mit der Amadeus-Nennung ernst nimmt, ist bei Previté Orton a.a.O. 279ff. und Tyler a.a.O. 60 ein engeres Verhältnis des Grafen Amadeus zu Heinrich V. überhaupt in Zweifel gezogen, und Haverkamp in ZBLG 31,787 Anm. 74 und in Hist. Zs. Beiheft 7,186 sieht in D.71, mit seiner Nennung der als Konkurrenten der Grafen von Savoyen angesehenen Piemonteser Herren, sogar eine “deutliche Spitze” gegen Amadeus, wodurch seine gleichzeitige Nennung ausgeschlossen erscheinen müsste; zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Amadeus und Turin vgl. B.-Petke a.a.O. und Reg. 537. – Zu dem hier erstmals belegten B. Siegfried von Vercelli, einem vermutlichen früheren Speyerer Domkanoniker, vgl. Schwartz, Besetzung 140.

(C.) In nomine sancte et individue trinitatis. Henricus divina favente clemencia quartus Romanorum imperator augustus et palatinus. Omnibus Christi nostrique fidelibus tam futuris quam presentibus notum fieri volumus, qualiter nos digno interventu et consilio Frederici Coloniensis archiepiscopi et episcoporum: Arthuici Ratisponensis, Ottonis Bauembergensis, [E]brardi Eistetensis, Seyfredi Vercellensis, necnon Welfonis ducis et marchionum: Rainerii de Monteferrato et Manfredi de Romagnano, pariterque comitum: Alberti de Blandrato, Vidonis de Canauixio, aliorumque multorum nostrorum fidelium publicam stratam, que de ultramontanis partibus per burgum sancti Ambroxii Romam tendit, eundo et redeundo, Taurinensi civitati et omnibus eius incolis propter eorum fidelitatem retinendam, quam semper nobis ac fideliter observaturi sunt, et iusticiam transeuncium peregrinorum ac negociatorum per hanc preceptalem paginam concessimus atque firmavimus. Precipimus igitur, ut nullus dux, marchio, comes, vicecomes aut alia quelibet persona magna vel parva, cuiuscumque condicionis fuerit, supradictam urbem vel eius incolas inde molestare audeat. Quod si quis facere presumpserit, mille libras auri optimi compositurus banno nostro subiacebit, medietatem camere nostre et medietatem supradictis civibus. Ut autem hec nostra concessio ab omnibus credatur et omni evo inviolabilis permaneat, hanc inde cartam conscriptam impressione nostri sigilli insigniri iussimus.

Signum domini Henrici quarti Romanorum imperatoris (M.7.) invictissimi.

Data X. kl. aprilis, indicione tercia, anno dominice incarnacionis MCXI, regnante Henrico quarto imperatore Romanorum anno Vo, imperante primo, ordinationis eius XI; actum est Sutr[i]e; in Christi nomine amen.