Stumpf
Reg. –.
Nach den eindeutigen Feststellungen Bresslaus in Anzeiger für schweizer. Gesch. 6 (1892 Heft 1) S. 312ff. wurde
das in der ersten Hälfte des 12. Jh. gefälschte DH.II. † 532 von
angeblich 1024 Februar 10 für die
homines Bergalliensis comitatus unter Benutzung eines von Notar Heinrich geschriebenen Diploms “aus
den letzten Jahren Heinrichs V.” verfertigt. Ein echtes D. Heinrichs
II., der mit D.114 von 1006 Mai 28 der bischöflichen Kirche zu Chur
die
Bergallia vallis cum castello et decimali ecclesia omnique
districtione placiti et banni et teloneo et forestis ac inquisicione
tocius census tam in montibus quam in planis ad ipsam vallem
pertinente bestätigt hatte (Wiederholung des DO.III.48 von 988 Okt. 20, das die
Schenkung der
vallis Pergalliae … hactenus ad comitatum pertinens durch DO.I.209 von 960 bestätigte), hat nicht existiert.
Dem Fälscher konnte überhaupt kein älteres Diplom für die Bergeller
zur Verfügung gestanden haben, da dem Bistum Chur das DH.II.114 in
kurzen Abständen immer wieder bestätigt wurde, durch DKo.II.224 von
1036 Jan. 26, DH.III.34 von 1040 Jan. 23 und DH.IV.77 von 1061 Nov. 5.
– Dass er allein auf das Deperditum Heinrichs V. angewiesen war, zeigt
sich einmal daran, dass er in der ersten Zeile die Elongata des Notars
Heinrich nachzuahmen versuchte und auch mit der Verwendung von
einfacher Kontextschrift für die Unterfertigungszeilen dessen
überwiegender Praxis entsprach (zum Monogramm s. Anm. o).
Insbesondere aber war er genötigt, den Text des Falsum ganz am
Formular des Deperditums zu orientieren. – Dies gilt namentlich für
die Formulierung der Datierung mit den von Notar Heinrich von Anfang
an radikal auf Inkarnationsjahr und Indiktion reduzierten
Jahreskennzahlen, wobei aber die von Bresslau
a.a.O. 313 herausgestellte, in D.*244 gebotene Standardform (Data – Ort, im loc. oder wie hier mit
apud und acc. – Inkarnationsjahr – Indiktion – Tagesangabe; Weglassung
einer Apprekatio), nach vereinzelten früheren Anläufen, von dem Notar
exakt erst mit D.246 von 1122 Dezember 28 dauerhaft erreicht wurde,
vgl. Thiel, Beiträge ■.
Andererseits bildet aber das D.246 mit einer Erweiterung der
Rekognitionszeile zugleich den Terminus ante quem: Während man sich
bis dahin, wie in D.*244, mit der Angabe des bloßen Namens des
Erzkanzlers begnügt hatte (vgl. die mit D.*244 absolut identische
Formulierung in D. † 234 von 1122 April 25:
Bruno cancellarius recognovi vice Adelberti archicancellarii), tritt in D.246 erstmals die in der Folgezeit regelmäßig beibehaltene
Zusatzangabe
Moguntini hinzu (Standardformulierung ab D.247:
Philippus cancellarius recognovi vice Adelberti Mogontini
archicancellarii; nur in D.248 ist
archicancellarii durch
archiepiscopi ersetzt; in D.246
[… archicancellarii Adelberti Moguntini archiepiscopi] waren sogar beide Titel verwendet, ebenso nochmals in DD.267 u. 268;
in DD.265, 266 u. 273 steht das
recognovi am Schluss, zu dessen bevorzugter Mittelstellung vgl. Bresslau
a.a.O. 313). – Es ist übrigens denkbar, dass der als Nachfolger
Brunos seit dem Wormser Konkordat amtierende und erstmals in D. † 241
von 1122 (Sept.) rekognoszierende neue Kanzler Philipp (s. Hausmann, Reichskanzlei 48) die in D.246 auftretenden beiden Neuerungen
eingeführt hatte.
Man gewinnt damit für die Entstehung des Deperditums zunächst einen
ungefähren Zeitraum zwischen April (s. oben zu D. † 234) und Dezember
1122. Tatsächlich ist es aber wohl nur kurze Zeit vor D.246
anzusetzen: Zweifellos sind nämlich auch die Schlussformeln des
Kontextes, Korroboratio und Sanktio, sklavisch aus dem Deperditum
übernommen; viele Diktatmerkmale dieser Formeln, die der Notar im
einzelnen immer wieder variiert, treten nämlich gehäuft erst ab dem D.
† 241 auf, wie aus dem Nachweis für einige Formulierungen in den
Anmerkungen abzulesen ist (auf einen Nachweis weiterer Parallelen zum
Diktat des Notars ist verzichtet).
Eine weitere Stütze für einen relativ frühen Ansatz innerhalb der
Amtszeit des Kanzlers Philipp liefert die Stellung der Sanktio – die
übrigens gleichfalls erst seit dem D. † 241 zum regelmäßigeren
Formularbestand des Notars Heinrich zählt und seitdem in gut der
Hälfte seiner Diplome begegnet (DD. † 241 [nach VU.!], 242, 247, 250,
253, 255, 259 [ohne Korroboratio], † 262 [nach VU.] und 266–268;
vorher nur in DD.233 [innerhalb der Korroboratio] und † 237
[rudimentär]: Während in DD. † 241, 247 und 255 – wie hier – die
Korroboratio der Sanktio vorangeht, ist in den überwiegend jüngeren
DD.253, † 262 und 266–268 die Abfolge der beiden Formeln umgekehrt.
Schließlich ist auf das Vorbild des Deperditums zurückzuführen, dass
der Fälscher in Intitulatio und Signumzeile seines Falsum, beide
(einschließlich des Monogramms, s. Anm. o) ebenfalls dem Deperditum entnommen, eine in Diplomen Heinrichs II. undenkbare Ordinalzahl
einfügte, sich dabei aber in der Zählung irrte (s. Anm. b), vgl. Bresslau
a.a.O. 315.
Nachdem sowohl das Protokoll als auch der Kontextschluss und das
gesamte Eschatokoll offenbar unverändert aus dem Deperditum übernommen
sind, scheint es gerechtfertigt, diese Teile als dessen Überreste,
ergänzt durch die erforderlichen Klammereinschlüsse, hier abzudrucken;
in Korroboratio und Sanktio sind die zwei (bzw. drei, s. Anm. f)
Stellen, deren Formulierung auf den konkreten Fall abgestellt war und
die deshalb ohne exakte Parallelen in den anderen Diplomen des Notars
sind, aber sicherlich ebenfalls von ihm formuliert waren, durch
Kursivsatz gekennzeichnet.
Darüber hinaus den ohne Zweifel aus dem Deperditum geschöpften Text
der Dispositio hier zu wiederholen, verbietet sich deswegen, weil wir
nicht mit Sicherheit wissen, ob der Fälscher Änderungen vorgenommen
hat. Grundsätzlich ist jedoch gegen deren Inhalt wohl nichts
einzuwenden; dass die Bergeller auch tatsächlich die Empfänger des
Deperditums gewesen waren, kann man dem rückbezüglichen
ipsis liberis hominibus entnehmen. Es gibt darüber hinaus konkrete Anhaltspunkte für die
sachliche Richtigkeit:
Zu den Leuten des Bergell (ital. Val Bregaglia), des sich östlich von
Chiavenna zum Maloja-Pass ziehenden Tales am Oberlauf der Maira/Mera
(vgl. D.182; Vicosoprano, in dessen Gemeindearchiv das Original von
DH.II. † 532 überliefert ist, liegt am südlichen Fuß der Paßstraße),
rechnen sicher die Bewohner von Chiavenna (Clavennates), die sich das dem Bistum Chur gehörige
castrum Muri (Castelmur in der Osthälfte des Bergell; wohl das
castellum des oben zitierten DH.II.114) angeeignet hatten, weswegen P. Calixt
II. mit Mandat von 1121 oder 1122 April 6 (JL 6965 zu 1122; Germ.
pont. 2.2,94 no
*29 u. 31 zu 1121; Bündner UB 1,204 no
273 u. 274 zu 1121/1122) B. Wido von Como beauftragte, diese als
seine
parrochiani zur Rückgabe an B. Wido von Chur zu zwingen.
Außerdem hatten die Bergeller für die Erwirkung des Deperditums
wahrscheinlich eine günstige Gelegenheit genutzt – was auch unseren
Zeitansatz zusätzlich stützt; denn nach dem Tode B. Widos († 1122 Mai
17/18) hatte es in Chur vermutlich eine längere Vakanz gegeben, da
sein Nachfolger Konrad erst am 29. April 1123 geweiht wurde (vgl.
Helvetia sacra 1.1,56 mit 20. April; zum richtigen Tagesdatum vgl. Meyer von Knonau, Jahrb. 7,226 Anm. 44 und Bündner UB 1,205 n0
275 Anm. 1), nachdem er kurz zuvor die kaiserliche Investitur
erhalten hatte, deren Erlangung wohl sein durch das ihn überhaupt
erstmals nennende D.255 von 1123 März 25 belegter Aufenthalt am Hofe
in Speyer gedient haben wird. – Appentranger, Die Bischöfe von Chur 9f. behauptet demgegenüber, unter Berufung auf
die bloße Nennung B. Konrads als
successor in den Casus mon. Petershus. 4,10 (MGH SS 20,663), dass dieser “gleich
nach dem Tode Widos” auf den bischöflichen Stuhl erhoben worden sei.
Übrigens scheint sich Heinrich schon früher mit D.182 für Menaggio von
1116 Mai 25/28, in einem über die Vorurkunde hinausgehenden Zusatz,
zur Beeinträchtigung bischöflicher Zollrechte in Chur bereitgefunden
zu haben. – Ob die Bergeller auf Dauer Erfolg hatten, ist unbekannt;
das nur als Auszug bekannte (Mohr, CD Cur-Rätien 1,209 no
147) D. Friedrichs 1. von 1179 Mai 12 zu ihren Gunsten (Stumpf
Reg. 4279) ist eine Fälschung, vgl. Vorbemerkung zu DF.I.777. Nach Bresslau
a.a.O. 316 Anm. 1 erhielt zwar auch Chur keine weiteren
Bestätigungen, ein Fortbestehen bischöflicher Rechte im Bergell ergibt
sich aber aus den späteren Churer Urbaren.
Das Motiv für die Fälschung, der das echte D. Heinrichs V. geopfert
worden sein muss, war wohl nicht eine inhaltliche Verfälschung,
sondern womöglich allein der Wunsch, über ein, mit der Erwähnung von
antecessores (S. 688 Z. 39) noch weiter zurückweisendes Diplom des ersten Saliers
zu verfügen, das man dessen 18 Jahre älteren Diplom zugunsten Churs
(DH.II.114) hätte entgegenhalten können.
Als einzige völlig freie Erfindung des Fälschers müssen wohl
Ausstellort und Tagesdatum (s. Anm. r u. s) gelten; das gilt vor allem
für die Tagesangabe des 10. Februar, die weder im Jahre 1122 in das
Itinerar passt, da sich Heinrich während des Frühjahrs im Nordwesten
des Reiches aufhielt, noch auch und erst recht nicht in dem, auch
durch unseren Zeitansatz auszuschließenden Jahr 1123, da Heinrich mit
D.250 am selben Tage in Speyer urkundete; ein Aufenthalt auf der
Reichenau wäre allenfalls unter Annahme uneinheitlicher Datierung zu
retten, mit Handlung während eines Abstechers aus dem
Mittelrheingebiet im Herbst 1122 (zwischen DD.240/† 241 und 246) und
nachträglicher Beurkundung am 10. Februar 1123 in Speyer.