Die Urkunden Heinrichs V. und der Königin Mathilde
<<*244.>>

Heinrich urkundet für die Leute der Grafschaft Bergell.

(wohl 1122 September – Dezember).

Vorbemerkung Thiel, Stand: 2010

Stumpf Reg. –.

Nach den eindeutigen Feststellungen Bresslaus in Anzeiger für schweizer. Gesch. 6 (1892 Heft 1) S. 312ff. wurde das in der ersten Hälfte des 12. Jh. gefälschte DH.II. † 532 von angeblich 1024 Februar 10 für die homines Bergalliensis comitatus unter Benutzung eines von Notar Heinrich geschriebenen Diploms “aus den letzten Jahren Heinrichs V.” verfertigt. Ein echtes D. Heinrichs II., der mit D.114 von 1006 Mai 28 der bischöflichen Kirche zu Chur die Bergallia vallis cum castello et decimali ecclesia omnique districtione placiti et banni et teloneo et forestis ac inquisicione tocius census tam in montibus quam in planis ad ipsam vallem pertinente bestätigt hatte (Wiederholung des DO.III.48 von 988 Okt. 20, das die Schenkung der vallis Pergalliae … hactenus ad comitatum pertinens durch DO.I.209 von 960 bestätigte), hat nicht existiert.

Dem Fälscher konnte überhaupt kein älteres Diplom für die Bergeller zur Verfügung gestanden haben, da dem Bistum Chur das DH.II.114 in kurzen Abständen immer wieder bestätigt wurde, durch DKo.II.224 von 1036 Jan. 26, DH.III.34 von 1040 Jan. 23 und DH.IV.77 von 1061 Nov. 5. – Dass er allein auf das Deperditum Heinrichs V. angewiesen war, zeigt sich einmal daran, dass er in der ersten Zeile die Elongata des Notars Heinrich nachzuahmen versuchte und auch mit der Verwendung von einfacher Kontextschrift für die Unterfertigungszeilen dessen überwiegender Praxis entsprach (zum Monogramm s. Anm. o).

Insbesondere aber war er genötigt, den Text des Falsum ganz am Formular des Deperditums zu orientieren. – Dies gilt namentlich für die Formulierung der Datierung mit den von Notar Heinrich von Anfang an radikal auf Inkarnationsjahr und Indiktion reduzierten Jahreskennzahlen, wobei aber die von Bresslau a.a.O. 313 herausgestellte, in D.*244 gebotene Standardform (Data – Ort, im loc. oder wie hier mit apud und acc. – Inkarnationsjahr – Indiktion – Tagesangabe; Weglassung einer Apprekatio), nach vereinzelten früheren Anläufen, von dem Notar exakt erst mit D.246 von 1122 Dezember 28 dauerhaft erreicht wurde, vgl. Thiel, Beiträge ■.

Andererseits bildet aber das D.246 mit einer Erweiterung der Rekognitionszeile zugleich den Terminus ante quem: Während man sich bis dahin, wie in D.*244, mit der Angabe des bloßen Namens des Erzkanzlers begnügt hatte (vgl. die mit D.*244 absolut identische Formulierung in D. † 234 von 1122 April 25: Bruno cancellarius recognovi vice Adelberti archicancellarii), tritt in D.246 erstmals die in der Folgezeit regelmäßig beibehaltene Zusatzangabe Moguntini hinzu (Standardformulierung ab D.247: Philippus cancellarius recognovi vice Adelberti Mogontini archicancellarii; nur in D.248 ist archicancellarii durch archiepiscopi ersetzt; in D.246 [… archicancellarii Adelberti Moguntini archiepiscopi] waren sogar beide Titel verwendet, ebenso nochmals in DD.267 u. 268; in DD.265, 266 u. 273 steht das recognovi am Schluss, zu dessen bevorzugter Mittelstellung vgl. Bresslau a.a.O. 313). – Es ist übrigens denkbar, dass der als Nachfolger Brunos seit dem Wormser Konkordat amtierende und erstmals in D. † 241 von 1122 (Sept.) rekognoszierende neue Kanzler Philipp (s. Hausmann, Reichskanzlei 48) die in D.246 auftretenden beiden Neuerungen eingeführt hatte.

Man gewinnt damit für die Entstehung des Deperditums zunächst einen ungefähren Zeitraum zwischen April (s. oben zu D. † 234) und Dezember 1122. Tatsächlich ist es aber wohl nur kurze Zeit vor D.246 anzusetzen: Zweifellos sind nämlich auch die Schlussformeln des Kontextes, Korroboratio und Sanktio, sklavisch aus dem Deperditum übernommen; viele Diktatmerkmale dieser Formeln, die der Notar im einzelnen immer wieder variiert, treten nämlich gehäuft erst ab dem D. † 241 auf, wie aus dem Nachweis für einige Formulierungen in den Anmerkungen abzulesen ist (auf einen Nachweis weiterer Parallelen zum Diktat des Notars ist verzichtet).

Eine weitere Stütze für einen relativ frühen Ansatz innerhalb der Amtszeit des Kanzlers Philipp liefert die Stellung der Sanktio – die übrigens gleichfalls erst seit dem D. † 241 zum regelmäßigeren Formularbestand des Notars Heinrich zählt und seitdem in gut der Hälfte seiner Diplome begegnet (DD. † 241 [nach VU.!], 242, 247, 250, 253, 255, 259 [ohne Korroboratio], † 262 [nach VU.] und 266–268; vorher nur in DD.233 [innerhalb der Korroboratio] und † 237 [rudimentär]: Während in DD. † 241, 247 und 255 – wie hier – die Korroboratio der Sanktio vorangeht, ist in den überwiegend jüngeren DD.253, † 262 und 266–268 die Abfolge der beiden Formeln umgekehrt.

Schließlich ist auf das Vorbild des Deperditums zurückzuführen, dass der Fälscher in Intitulatio und Signumzeile seines Falsum, beide (einschließlich des Monogramms, s. Anm. o) ebenfalls dem Deperditum entnommen, eine in Diplomen Heinrichs II. undenkbare Ordinalzahl einfügte, sich dabei aber in der Zählung irrte (s. Anm. b), vgl. Bresslau a.a.O. 315.

Nachdem sowohl das Protokoll als auch der Kontextschluss und das gesamte Eschatokoll offenbar unverändert aus dem Deperditum übernommen sind, scheint es gerechtfertigt, diese Teile als dessen Überreste, ergänzt durch die erforderlichen Klammereinschlüsse, hier abzudrucken; in Korroboratio und Sanktio sind die zwei (bzw. drei, s. Anm. f) Stellen, deren Formulierung auf den konkreten Fall abgestellt war und die deshalb ohne exakte Parallelen in den anderen Diplomen des Notars sind, aber sicherlich ebenfalls von ihm formuliert waren, durch Kursivsatz gekennzeichnet.

Darüber hinaus den ohne Zweifel aus dem Deperditum geschöpften Text der Dispositio hier zu wiederholen, verbietet sich deswegen, weil wir nicht mit Sicherheit wissen, ob der Fälscher Änderungen vorgenommen hat. Grundsätzlich ist jedoch gegen deren Inhalt wohl nichts einzuwenden; dass die Bergeller auch tatsächlich die Empfänger des Deperditums gewesen waren, kann man dem rückbezüglichen ipsis liberis hominibus entnehmen. Es gibt darüber hinaus konkrete Anhaltspunkte für die sachliche Richtigkeit:

Zu den Leuten des Bergell (ital. Val Bregaglia), des sich östlich von Chiavenna zum Maloja-Pass ziehenden Tales am Oberlauf der Maira/Mera (vgl. D.182; Vicosoprano, in dessen Gemeindearchiv das Original von DH.II. † 532 überliefert ist, liegt am südlichen Fuß der Paßstraße), rechnen sicher die Bewohner von Chiavenna (Clavennates), die sich das dem Bistum Chur gehörige castrum Muri (Castelmur in der Osthälfte des Bergell; wohl das castellum des oben zitierten DH.II.114) angeeignet hatten, weswegen P. Calixt II. mit Mandat von 1121 oder 1122 April 6 (JL 6965 zu 1122; Germ. pont. 2.2,94 no *29 u. 31 zu 1121; Bündner UB 1,204 no 273 u. 274 zu 1121/1122) B. Wido von Como beauftragte, diese als seine parrochiani zur Rückgabe an B. Wido von Chur zu zwingen.

Außerdem hatten die Bergeller für die Erwirkung des Deperditums wahrscheinlich eine günstige Gelegenheit genutzt – was auch unseren Zeitansatz zusätzlich stützt; denn nach dem Tode B. Widos († 1122 Mai 17/18) hatte es in Chur vermutlich eine längere Vakanz gegeben, da sein Nachfolger Konrad erst am 29. April 1123 geweiht wurde (vgl. Helvetia sacra 1.1,56 mit 20. April; zum richtigen Tagesdatum vgl. Meyer von Knonau, Jahrb. 7,226 Anm. 44 und Bündner UB 1,205 n0 275 Anm. 1), nachdem er kurz zuvor die kaiserliche Investitur erhalten hatte, deren Erlangung wohl sein durch das ihn überhaupt erstmals nennende D.255 von 1123 März 25 belegter Aufenthalt am Hofe in Speyer gedient haben wird. – Appentranger, Die Bischöfe von Chur 9f. behauptet demgegenüber, unter Berufung auf die bloße Nennung B. Konrads als successor in den Casus mon. Petershus. 4,10 (MGH SS 20,663), dass dieser “gleich nach dem Tode Widos” auf den bischöflichen Stuhl erhoben worden sei.

Übrigens scheint sich Heinrich schon früher mit D.182 für Menaggio von 1116 Mai 25/28, in einem über die Vorurkunde hinausgehenden Zusatz, zur Beeinträchtigung bischöflicher Zollrechte in Chur bereitgefunden zu haben. – Ob die Bergeller auf Dauer Erfolg hatten, ist unbekannt; das nur als Auszug bekannte (Mohr, CD Cur-Rätien 1,209 no 147) D. Friedrichs 1. von 1179 Mai 12 zu ihren Gunsten (Stumpf Reg. 4279) ist eine Fälschung, vgl. Vorbemerkung zu DF.I.777. Nach Bresslau a.a.O. 316 Anm. 1 erhielt zwar auch Chur keine weiteren Bestätigungen, ein Fortbestehen bischöflicher Rechte im Bergell ergibt sich aber aus den späteren Churer Urbaren.

Das Motiv für die Fälschung, der das echte D. Heinrichs V. geopfert worden sein muss, war wohl nicht eine inhaltliche Verfälschung, sondern womöglich allein der Wunsch, über ein, mit der Erwähnung von antecessores (S. 688 Z. 39) noch weiter zurückweisendes Diplom des ersten Saliers zu verfügen, das man dessen 18 Jahre älteren Diplom zugunsten Churs (DH.II.114) hätte entgegenhalten können.

Als einzige völlig freie Erfindung des Fälschers müssen wohl Ausstellort und Tagesdatum (s. Anm. r u. s) gelten; das gilt vor allem für die Tagesangabe des 10. Februar, die weder im Jahre 1122 in das Itinerar passt, da sich Heinrich während des Frühjahrs im Nordwesten des Reiches aufhielt, noch auch und erst recht nicht in dem, auch durch unseren Zeitansatz auszuschließenden Jahr 1123, da Heinrich mit D.250 am selben Tage in Speyer urkundete; ein Aufenthalt auf der Reichenau wäre allenfalls unter Annahme uneinheitlicher Datierung zu retten, mit Handlung während eines Abstechers aus dem Mittelrheingebiet im Herbst 1122 (zwischen DD.240/† 241 und 246) und nachträglicher Beurkundung am 10. Februar 1123 in Speyer.

(C.) In nomine sanctae et individuae trinitatis. Heinricus divina favente clementia [quartus] Romanorum imperator augustus......................................................................................... Ut autem huius nostrę confirmationis et corroborationis preceptum stabile et inviolatum omni tempore permaneat, hanc inde cartam scribi et sigilli nostri inpressione iussimus insigniri. Si quis autem, quod absit, huius nostri imperialis precepti violator extiterit, auri purissimi C libras componat et medietatem ipsis liberis hominibus, quibus iniuria facta fuerit, et medietatem scriniis imperatoris persolvat.

Signum Henrici [quarti] Romanorum imperatoris (M.9.) invictissimi.

[Philippus] cancellarius recognovi vice [Adelberti] archicancellarii.

Data apud [........], anno dominicę incarnationis [........], indictione [....,.....].