Die Urkunden Heinrichs V. und der Königin Mathilde
<<106.>>

Heinrich bestätigt dem Kloster Disentis unter Anordnung eines Gedenkens für seinen Vater, Kaiser Heinrich (IV.), seine alte Freiheit und Reichsunmittelbarkeit.

Speyer, 1112 Oktober 6.

Vorbemerkung Thiel, Stand: 2010

Abschrift aus dem Anfang des 18. Jh. in Collectanea hist. des Joh. Dumont Frhr. v. Karlscroon, Hs. suppl. 383/32 f. 283v–284r im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien (B). – Abschrift des 18. Jh. in Ms. lat. 12.668 (Monasticum Bened. tom. XI) f. 274r der Nationalbibliothek zu Paris (C). – Abschrift aus dem Ende des 18. Jh. in Hs. 61b/2 (aus St. Blasien) f. 115r–v des Stiftsarchivs St. Paul im Lavanttal (D).

Drucke: Eichhorn, Episcopatus Curiensis, Cod. prob. 45 no 39 “ex archivo Desertinensi” (e) = Mohr, CD Cur-Raetiens 1,150 no 107. – Aus BD: Meyer-Marthaler u. Perret, Bündner UB 1,182 no 237. Reg.: Mohr, Reg. Disentis 9 no 36. – Hidber, Schweizer. Urk.-Register 1,451 no 1575. – Goerz, Mittelrhein. Reg. 1,462 no 1654. – Ficker in Wilmans, Add. z. Westf. UB 91 no 20. – Thommen, Urk. z. Schweizer Gesch. 1,5 no 6. – Jaeger in Archiv f. Kunde österr. Gesch.-Quellen 15,341. – Ehlers, Metropolis 278 in no 45. – Böhmer Reg. 2022. – Stumpf Reg. 3089.

Im Bündner UB ist irrigerweise die Vermutung ausgesprochen, Eichhorn könne das verlorene Original als Vorlage benützt haben. Obwohl Eichhorns Druck weitestgehend mit der Sanblasianer Abschrift D übereinstimmt (vgl. Anm. f, l–n, p, q, t–v, y, c’, e’, i’–o’ und q’, insbesondere aber alle Auslassungen gemäß Anm. h und m), war auch diese nicht seine Quelle, sondern aufgrund von Varianten, in denen sein Text entweder mit der Abschrift B (vereinzelt auch C) zusammengeht (vgl. Anm. a, b, d, e, i, r, s, k’) oder aber sich mit keiner der erhaltenen Abschriften deckt (s. Anm. x, r’), ist anzunehmen, dass D und Eichhorn auf eine verlorene Abschrift als gemeinsame Vorlage zurückgehen, weshalb Eichhorns Varianten vollständig im Apparat zitiert sind (e).

Unter Verwendung eines Empfängerentwurfs, der für die Publikatio das DO.II.285 von 965 (= VU.I) und für die zweite Texthälfte das DH.III.225 von 1048 November 19 (= VU.II) als Vorlagen verwendet hatte, verfasst von Notar Adalbert A (s. Hausmann, Reichskanzlei 65 no 46), der mit D.106 den zwischenzeitlich seit D.98 tätig gewesenen Notar Adalbert B wieder abgelöst hatte. – Angesichts der hier erstmals begegnenden neuen und definitiven, sicher von Adalbert A geschaffenen und bis zum Ende von Heinrichs Regierungszeit beibehaltenen Gestalt des Monogramms dürfte Adalbert A auch der Schreiber des Originals gewesen sein (s. auch Anm. s’); das falsche, nach der Kaiserkrönung obsolet gewordene X (für rex) statt des unverzichtbaren Q (für quartus oder quintus; s. Anm. g’) ist wohl am ehesten dem Kopisten der Abschrift D, nicht dem Notar anzulasten. – Zur Erwähnung des Kapellans Arnold als Rekognoszent vgl. Hausmann a.a.O. 80 und Vorbemerkung zu D.100.

In der Datierung übernimmt Adalbert A die von Adalbert B seit D.99 verwendete falsche Zählung der Königsjahre mit VI statt VII; außerdem ließ er sich von Adalbert B auch dazu motivieren, hier und ebenso noch in den beiden folgenden DD.107 und 108 (beide auch mit der falschen Zahl VI für die Königsjahre) die zuvor von ihm selbst seit D.84 aufgegebene Nennung der Ordinationsjahre (vgl. Vorbemerkung zu D.80) wieder aufzunehmen, um aber bald danach ab D.109 (dort gleichfalls noch die Königsjahre mit der falschen Zahl VI) für alle Zukunft auf diese Angabe zu verzichten.

Wenn Adalbert A hier für die Ordinationsjahre nicht die von Adalbert B regelmäßig eingesetzte falsche, um 1 Einheit zu niedrige Zahl XIII (s. DD. 99 † 101–104) übernimmt, sondern in DD..106–108 die um 2 Einheiten zu niedrige Zahl XII einsetzt, so ist das sicher damit zu erklären, dass er bewusst die von ihm selbst im Vorjahr 1111 ständig (bis D.79) verwendete, damals ebenfalls um 2 Einheiten zu niedrige Zahl XI aufgriff und rechnerisch ins Jahr 1112 fortschrieb.

Auf den Einfluss des Adalbert B ist es übrigens auch zurückzuführen, dass Adalbert A unser D. mit einem, seiner eigenen Praxis fremden, für diesen aber typischen (s. DD.98, 99, † 101, 102, 104) Signum speciale ausstattete. Und noch eine weitere Einflussnahme des Adalbert B kann man schließlich vermutlich darin sehen, dass Adalbert A, gleichfalls von seinem eigenen Brauch abweichend, hier, wie jener zuletzt in den unmittelbar vorangehenden DD.103 und 104, bei den Jahresangaben das Inkarnationsjahr vor der Indiktion anführt, um dann aber in D.107 gleich wieder zur Angabe der Indiktion an erster Stelle zurückzukehren.

D.106 gehört in eine Reihe von Diplomen, in denen schon vorher dem Kloster die Reichsunmittelbarkeit bestätigt worden war, neben DH.III.225 von 1048 Nov. 19 (VU.II) das nur noch als Regest erhaltene DH.IV.*256 von ca. 1072. – Dieser nur auf kopialen Überlieferungen beruhenden Reihe steht eine andere, durchwegs im Original erhaltene und teilweise auf dieselben Herrscher zurückgehende Serie gegenüber, mit der das Kloster immer wieder der bischöflichen Kirche von Brixen unterstellt wurde, beginnend mit dem DH.II.424 von 1020 April 24, über DH.III.23 von 1040 Jan. 16 und das DH.IV.5 von 1057 Febr. 4, endend mit Heinrichs V. D.202 von 1117 Juni 17. – Eine in der politischen Situation begründete Episode blieb es, wenn im Jahre 1097 Heinrichs IV. rebellischer Sohn Kg. Konrad das Kloster dem Hochstift Chur unterstellte (D.Konr.3); vgl. dazu Müller in Stud. u. Mitt. 71,13ff. (mit Übersicht S. 26) und Müller-Mertens, Regnum Teutonicum 64ff.

Während unter Heinrich III. und Heinrich IV. das Diplom zugunsten des Klosters immer demjenigen zugunsten Brixens folgte – wobei unklar bleibt, ob sich darin jedesmal ein bewusster Widerruf der Brixener Diplome ausdrückt, wie er in DH.III.225 ausdrücklich (ohne Erwähnung des eigenen DH.III.23!) gegenüber dem DH.II.424 formuliert ist, oder ob dies teilweise auf reiner Unkenntnis der Kanzlei beruhte, die jeweils arglos die von jedem der beiden Empfänger vorgelegten Vorurkunden erneuerte, wohingegen Büttner, Schwaben u. Schweiz 266 ein langes “Schwanken” zwischen dem Bestreben nach unmittelbarer Verfügung über das Kloster einerseits und Überlassung an das “mit Fragen der Paßbetreuung und -politik wohlvertraute” Bistum Brixen im Interesse der Reichsgewalt andererseits herauslesen wollte –, ist bei Heinrichs V. beiden Diplomen, DD.106 und 202, die Reihenfolge umgekehrt.

Gleichwohl blieb das Kloster schließlich erfolgreich; denn während Heinrichs D.202 das letzte Diplom für Brixen blieb, erhielt Disentis nochmals von Lothar III. mit dessen ebenfalls nur als Regest überliefertem D.88 die Bestätigung der Reichsunmittelbarkeit; das undatierte, in der Vorbemerkung auf 1136 datierte DLo.III.88 möchte B.-Petke Reg. 109 auf Ende Dez. 1125 datieren, gleichzeitig mit dem DLo.III.5 von 1125 Dez. 28 (ebenda Reg. 108) für das mit Disentis ein vergleichbares Geschick aufweisende (vgl. DD.50 und 126) Kloster Pfäfers (im Rheintal ca. 15 km n. Chur bei Ragaz), da so zeitgleich die Reichsunmittelbarkeit der beiden “durch ihre Lage, am Weg zu den Bündner Pässen wichtigen Abteien” (Disentis/Muster ca. 55 km sw. Chur im Tal des Vorderrhein an der Gabelung der Straßen zum Lukmanier- und zum St. Gotthardpass) wiederhergestellt worden wäre.

Während unser D. als Vorläufer nur die beiden Diplome Heinrichs III. und Heinrichs IV. erwähnt (s. Anm. 1 und 2), hätte Disentis nach Aussage des DH.IV.*256, das – in der Fassung b – Heinrichs IV. avus und pater nennt, auch schon von Konrad II. (avus), womöglich als Gegenstück zum älteren Brixener DH.II.424, ein entsprechendes, verlorenes Diplom erhalten gehabt.

Für Faussner, Königsurk.-Fälsch. Wibalds 120ff. “löst” sich der Widerspruch zwischen den zwei Urkundenreihen für und gegen Disentis auf einfachste Weise: Nach ihm gehörten einerseits die vier Diplome über die Unterstellung des Klosters unter Brixen (DD.H.II.424, H.III.23, H.IV.5 und H.V.202, s. dortige Vorbemerkung) zu der großen Fälschungsaktion, mit der Wibald von Stablo um 1141/42 in Abstimmung mit B. Hartmann von Brixen (1140–64) den Gesamtbestand der älteren Brixener Königsurkunden gefertigt hätte (vgl. Vorbemerkung zu D.86); andererseits sei es aber zwischen Wibald und B. Hartmann “dann zum großen Krach gekommen” (wann und warum, wird offengelassen), und Wibald habe daraufhin “in seinem Haß auf Hartmann” die Diplome zugunsten von Disentis angefertigt, zuerst DH.III.225 und dann DH.IV.*256, DH.V.106 und DLo.III.88, darüberhinaus habe er das Kloster auch noch mit der Gruppe der DDO.I.208, O.II.131 und O.III.116 ausgestattet (a.a.O. 122)! – Schon früher waren, in erster Linie wegen des Fehlens von Originalen, die Diplome für Disentis als unecht angesehen worden, zuletzt bei Meyer von Knonau, Jahrb. 2,224 Anm. 62 (für DH.IV.*256 [St. 2763]) und 6,259 Anm. 76 (für DH.V.106), wohingegen bereits in Vorbemerkung zu DH.III.225 der Fälschungsverdacht als unberechtigt zurückgewiesen worden war; dessen ungeachtet hat jüngst Vogtherr, Reichsabteien 140 Anm. 180, unter Berufing auf Meyer von Knonau, nochmals für D.106 Fälschung behauptet. – Zur Klostergeschichte vgl. Helvetia Sacra 3.1.1,474ff.

In nomine sancte et individue trinitatis. Heinricus divina favente clementia quartus Romanorum imperator augustus. Noverit cunctorum fidelium sancte dei ecclesie nostrorumque presentium et futurorum scilicet industria, qualiter nos ob deprecationem venerabilis abbatis Ade monasterii Desertinensis et totius sue congregationis et ob interventum et rogatum principum nostrorum, archiepiscoporum videlicet: Vdalrici Aquilegiensis patriarche, Brunonis Treuerensis archiepiscopi, et episcoporum: Brunonis Spirensis, Burchardi Monasteriensis, Erlundi Wirzeburgensis, Friderici ducis, sicuti antecessores nostri imperatores, beate memorie avus noster imperator Heinricus et pater noster imperator Heinricus, sua imperiali auctoritate ius et libertatem predicte Desertinensis ecclesie confirmaverunt, ita nos nostra imperiali auctoritate eiusdem ecclesie ius et libertatem confirmamus, eo scilicet tenore, ut parentis nostri beate memorie Heinrici imperatoris ibidem perenniter maneat memoriale, ita ut nullus episcopus nullusque dux neque comes neque advocatus nullaque maior vel minor potestas aliquam omnino in predicta abbatia habeat potentiam nisi nos aut nostri successores, reges vel imperatores, quibus similiter ut nobis regende commendatur cura monarchie. Et ut hec nostra imperialis auctoritas stabilis et inconvulsa omni evo permaneat, hoc preceptum inde conscriptum manu propria corroborantes sigilli nostri impressione iussimus insigniri.

Signum domni Heinrici quarti Romanorum imperatoris invictissimi. (M.9.) (SMP.)

Arnoldus vice Alberti Maguntini archiepiscopi et archicancellarii recognovi.

Data II. non. octob., anno dominice incarnationis millesimo CXII, indictione V, regnante Heinrico quinto rege Romanorum anno VI, ordinationis eius XII, imperii II; actum est Spire; in Christo feliciter amen.