Digitale Briefausgabe Ernst Kantorowicz

Inv.-Nr. 3155: Ernst H. Kantorowicz an Paul Fridolin Kehr, 06.06.1933

Metadaten

Inventar-Nr.: 3155
Dateiname: d19330606_kantorowicz_kehr.xml
Empfänger: Paul Fridolin Kehr Paul Fridolin Kehr (1860-1944), dt. Historiker. 1903-1936 kommissarischer Direktor des Preußischen Historischen Instituts in Rom, 1915-1929 Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive bzw. Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, ab 1917 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte. Zwischen 1919 und 1935 gewählter Vorsitzender der Zentraldirektion der MGH, 1935/36 kommissarisch beauftragter Leiter des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde.
Schreib-/Versandort: Frankfurt am Main
Empfängerort: -
Datum des Schreibens: 06.06.1933
Datum des Poststempels: -
Korrespondenzform: Brief
Typ: Manuskript
Umfang: 2 Bl., 4 S.
Aufbewahrung: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz/VI. HA, Nl Kehr, P. F., Nr. 20, Bl. 110r-111v

Brieftext

Frankfurt, 6. Juni 1933.

Hochverehrter, lieber Herr Geheimrat!

Lassen Sie mich Ihnen von Herzen danken für Ihre so freundschaftlichen Zeilen, die bei mir den Wunsch auslösten, Sie für einen Tag in KissingenBad Kissingen zu besuchen [1] . Leider liess sich das nicht einrichten und so muss ich mich darauf beschränken, Ihnen auf diesem Wege zu sagen, wie sehr mich Ihr Brief erfreut hat – ein Ton aus einer menschlichen Brust, während sonst heute die Larven überwiegen!

Mein "Fall" liegt nun so, dass ich bisher durchaus noch kein Definitivum geschaffen habe. Ich reichte für den Sommer ein Urlaubsgesuch ein, das freilich bis heute vom MinisteriumPreußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ("Kultusministerium"); Berlin noch nicht beantwortet wurde [2] . Allerdings liess mein Gesuch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und legte auch dar, warum es mir unmöglich sei, gegenwärtig zu lesen: gerade weil ich von jeher "national" gewesen bin, müsste ein Fortführen dieser mir gewohnten Sprache heute zu falschen Auslegungen Anlass geben und gerade darum ist mir der Mund heute mehr als andern verschlossen. |Seitenwechsel

Es bleibt nun abzuwarten, wie sich das MinisteriumPreußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ("Kultusministerium"); Berlin entscheidet, und ebenso bleibt abzuwarten, wie die Dinge sich weiter entwickeln. Denn wie Sie ganz richtig sagen: über kurz oder lang kann jeder von uns aus jeweils anders gelagerten Gründen vor ein "Non possum" gestellt sein. Im Grunde ist das ja schon heute der Fall. Sie kennen meine Einstellung zu der seit langem fragwürdig gewordenen, Universität genannten Institution. Wenn aber hier der RektorErnst Krieck (1882-1947), dt. Pädagoge u. NS-Kulturpolitiker, 1933/34 Rektor der Universität Frankfurt erklären kann, dass jetzt an den Universitäten "die Wissenschaft natürlich zu kurz kommt" u. in den Hintergrund rückt gegenüber dem an sich ganz erfreulichen Wehrsportgetriebe, wenn er selbst die Gefahr nahe sieht, dass die UniversitätUniversität (seit 1932 Goethe-Universität) Frankfurt am Main nur noch eine "SASA: Sturmabteilung-Kaserne" darstellt – dann, verehrter Herr Geheimrat, muss ich die Frage aufwerfen: was hat unsereins dort noch zu suchen! –

Selbstverständlich kenne ich auch das Gegenargument: dass gerade in dieser gefährlichen Lage des geistigen Deutschland man umso mehr die Pflicht habe, seinen Platz zu halten und ihn nicht, vielleicht ganz fragwürdigen, ParteiNSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (1920-1945)doktrinären preiszugeben. Und die Geschehnisse auf der ErfurterErfurt Tagung des HochschulverbandsVerband der Deuschen Hochschulen (VDH): 1920 gegründete, 1933 gleichgeschaltete und 1936 per Ministererlass aufgelöste Interessenvertretung der Hochschullehrer an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen zeigen ja, wie gefährdet die ganze Situation ist, nachdem dort der "Berg" triumphierte und selbst die nationalsozialistische "Gironde" (wie etwa HeideggerMartin Heidegger (1889-1976), dt. Philosoph; ab 1928 Professor in Freiburg i.Br., 1933-34 zugleich Universitätsrektor!) nicht mehr aufkommen konnte [3] . Aber wieweit unter den heutigen Umständen nicht jeder Versuch zu bremsen von meiner Seite als "Ressentiment" oder als "Sabotage" gewertet würde, ist auch noch die Frage. |Seitenwechsel

Und [4] schliesslich kommt noch etwas hinzu: die innere Schwierigkeit für mich, gewisse Stoffe (etwa: frühes Germanentum, Christentum etc.) so zu behandeln, wie das heute eindeutig gewünscht wird. Nach allem Vorgefallenen fehlt mir dazu ganz einfach die menschliche Unbefangenheit – und hier liegt m. E. die Hauptschwierigkeit! Wäre ich Pharmakologe oder Mineraloge, so gäbe es für mich kaum eine unüberwindbare Problematik [5] . Als Historiker d. h. als Vertreter einer sog. "Gesinnungswissenschaft" sehe ich – im Augenblick wenigstens – keine andere Möglichkeit des Wirkens als im kleinsten und privatesten Kreis. Diese Möglichkeit allerdings ist mir dadurch auch jetzt gegeben, dass ein Dutzend Schüler mich gebeten haben, doch ein derartiges privatissimum abzuhalten, und so kommen diese Studenten bei mir in der Wohnung allwöchentlich zu ihrer Arbeitsgemeinschaft zusammen [6] . Aber nur in dieser Form ist man auch vor jener schauderhaften Bespitzlung sicher, die hierUniversität (seit 1932 Goethe-Universität) Frankfurt am Main vielleicht stärker sein mag als an andern Universitäten.

Überhaupt liegen hier die Schwierigkeiten vornehmlich bei den Studenten [7] die FakultätUniversität Frankfurt am Main, Philosophische Fakultät benimmt sich ausgezeichnet [8] und es gibt keinen der engeren |Seitenwechsel Kollegen, der nicht völlig seine Vernunft bewahrt hätte. Wie überall sind es auch hier die Nicht-Ordinarien, die sich am radikalsten gebärden – neben den Medizinern natürlich, die sich jetzt erstmals für Dinge der UniversitätUniversität (seit 1932 Goethe-Universität) Frankfurt am Main interessieren [9] . – Im Ganzen gesehen aber fürchte ich, dass wir am Ende der alten humanistischen Universität stehen, wie sie zuletzt HumboldtWilhelm von Humboldt (1767-1835), preußischer Gelehrter, Schriftsteller u. Staatsmann eingerichtet hat – und über die Brüchigkeit dieses Baues haben wir uns ja öfters ausgesprochen. Nun aber scheint er am Einstürzen zu sein! Lehr- u. Lernfreiheit gehören da eben untrennbar zusammen, und in einer dezidiert musenfeindlichen Luft gibt es auch kaum ein vernünftiges Arbeiten. Und hierhin gehört auch die allseitige Scheu, irgendeine Verantwortung zu übernehmen: jeder sucht sich bei jedem Schritt der Meinung der "Oberen" zu vergewissern u. die Verantwortung auf diese abzuschieben. Und darin unterscheiden sich Student u. Minister in keiner Weise – ein Netz von Abhängigkeiten, welche Verantwortungsfreudigkeit ebenso ausschliesst wie ein Mindestmass von Selbständigkeit.

Dies, Herr Geheimrat, ist in wenigen Zügen mein Bild des gegenwärtigen Zustandes, das ich hoffentlich bald einmal durch ein Gespräch mit Ihnen vervollständigen kann.

Ich verbleibe mit den besten Grüssen u. allen guten Wünschen stets in dankbarer Verehrung Ihr
Ihnen aufrichtig ergebner
Ernst Kantorowicz.

1Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Kurort Kehrs, in dem er vom 11. bis 31.5.1933 weilte. Da Kehr erst am 6. Juni 1933 wieder in Berlin eintraf, ist davon auszugehen, dass Kantorowicz den vorliegenden Brief an die MGH adressierte; vgl. Kehr, Liber Vitae, hg. v. Munscheck-von Pölnitz (in Vorbereitung) Paul Fridolin Kehr, Liber Vitae Pauli Fridolini Kehr (Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, Nl Kehr, P.F., Nr. 183), ed. Hedwig Munscheck-von Pölnitz (in Vorbereitung)., Bl. 117r.

2Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Zum Urlaubsgesuch vgl. auch Inv.-Nr. 3154Inv.-Nr. 3154: Ernst H. Kantorowicz an Paul Fridolin Kehr, 07.05.1933, zur 'impliziten Bewilligung' durch das Ministerium, das "wohl auf eine Antwort verzichtete", Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 198 mit S. 495, Anm. 20.

3Verfasst von: Andreas Öffner. Am 1. Juni 1933 hatte der Verband der Deutschen Hochschulen auf einer außerordentlichen Tagung in Erfurt seine bereits eingeläutete "'Selbst-Gleichschaltung' [...] durch die Wahl eines neuen, nationalsozialistischen Vorstandes auch institutionell vollzogen" (Bauer, Geschichte des Deutschen Hochschulverbandes (2000) Franz J. Bauer, Geschichte des Deutschen Hochschulverbandes, München 2000. , S. 23). Kantorowicz' Anspielung auf zwei Gruppierungen des französischen Nationalkonvents der Revolutionszeit - die radikalere 'Bergpartei' und die gemäßigteren 'Girondisten' - erklärt sich daraus, dass der Abwahl des alten Vorstandes 1933 ein 'regimekonformer Aufruhr' vorausgegangen war (vgl. Heiber, (1992/94) Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, 2 Bde., München u.a. 1992/94., Bd. 1, S. 113), zwischen dessen Trägern es aber in Erfurt zu Spannungen kam. Martin Heidegger, damals Freiburger Universitätsrektor, gehörte wie sein Frankfurter Kollege Ernst Krieck laut Heiber zu einer kleineren Gruppe "aus der idealistischen ersten Generation nationalsozialistischer Rektoren [...], die in jenen Monaten auch anderweitig versucht haben, die Hochschulen im Sinne eines Nationalsozialismus, wie sie ihn verstanden, umzugestalten, und damit sämtlich im Abseits gelandet sind" . In der Konsequenz hätten die Mitglieder der "Fronde" beschlossen, persönlich aus dem Verband auszuscheiden und auf den Austritt ihrer jeweiligen Universität hinzuarbeiten. "Als Motiv nannten die Herren ihre gemeinsame Überlegung, daß es einem 'klaren Führerprinzip' widerspräche, 'wenn sich zwischen Ministerium und Rektor eine parlamentarische Institution schiebt'" (alle Zitate ebd. S. 126).

4Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Auf dem oberen Rand die Bogenzahl "II." von Kantorowicz' Hand.

5Verfasst von: Andreas Öffner. Die Mineralogie als Gegenbeispiel zur "Gesinnungswissenschaft" Historik führt Kantorowicz (im selben Kontext der Gleichschaltung) auch gegenüber Percy Ernst Schramm in Inv.-Nr. 102Inv.-Nr. 102: Ernst H. Kantorowicz an Percy Ernst Schramm, Mai/Juni 1933 an; für Literaturhinweise vgl. ebd. im Kommentar.

6Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Neun Studierende nahmen im Sommersemester 1933 am "Privatseminar Arnold v. Brescia bis Cola di Rienzi" teil, das Kantorowicz in seiner Wohnung in der Bockenheimer Landstr. 72 abhielt. Vgl. die Namenliste im LBI, AR 7216/MF 561, Box: I, Folder: I/1/5, n. 129, dazu Lerner, Kantorowicz and Frankfurt (1997) Robert E. Lerner, "Meritorious Academic Service": Kantorowicz and Frankfurt, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 14-32. , S. 27-29 und Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 187 f. Das Frankfurter Vorlesungsverzeichnis für das SS 1933 kündigte für Kantorowicz noch die vereinbarte Lehrveranstaltung "Investiturstreit" im Historischen Seminar, Dienstag 18– 20 Uhr, an, vgl. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Verzeichnis der Vorlesungen Sommer-Halbjahr 1933 und Personalverzeichnis, Frankfurt am Main 1933., S. 44 (hier online).

7Verfasst von: Andreas Öffner. Zur nationalsozialistischen Studierendenschaft in Frankfurt vgl. Hammerstein, Universität Frankfurt (2012) Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2 Bde., Göttingen 2012., Bd. 1, S. 270-283 und Maaser, Frankfurter Studenten im "Dritten Reich" (2008) Matthias Maaser, Die Frankfurter Studenten im "Dritten Reich", in: Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, hg. v. Jörn Kobes/Jan-Otmar Hesse, Göttingen 2008, S. 235-251., S. 237-243.

8Verfasst von: Andreas Öffner. Vgl., allerdings mit Blick auf Positionen und Entwicklungen an der Philosophischen Fakultät vornehmlich nach dem Jahr 1933, Hammerstein, Universität Frankfurt (2012) Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2 Bde., Göttingen 2012., Bd. 1, S. 319-321.

9Verfasst von: Andreas Öffner. Zur Frankfurter Medizinischen Fakultät im NS vgl. Hammerstein, Universität Frankfurt (2012) Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2 Bde., Göttingen 2012., Bd. 1, S. 315-319, hier S. 315: "Nach wie vor stellte im Reigen der Fakultäten die Medizinische einen Sonderfall dar, da hier die Stadt neben der Universität auch während der Zeit des Dritten Reiches eine entscheidende Mitsprache behielt. [... E]s bestand kein Zweifel, daß die Fakultät, auch wenn sie in vollen Umfang erhalten bleibe, Änderungen zu gewärtigen habe, zumindest überall dort, wo private, zumal jüdische Stiftungen als eigene Organisationsstrukturen der verordneten Einheit der Fakultät widerstritten. [...] Die nationalsozialistischen Professoren und Dozenten, die in dieser Fakultät etwas zahlreicher als in anderen vorhanden waren - wobei man freilich nicht vergessen darf, daß der Personalbestand der Mediziner weit über dem der anderen Fakultäten lag -, erstrebten [...] eine Ausrichtung nach dem neuen 'Führerprinzip'. Alle Institute wie auch die Fakultät hätten diesem Modell zu folgen." Für ein Beispiel vgl. Kreft, Das Neurologische Institut 1933 bis 1945 (2008) Gerald Kreft, "... nunmehr judenfrei ..." Das Neurologische Institut 1933 bis 1945, in: Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, hg. v. Jörn Kobes/Jan-Otmar Hesse, Göttingen 2008, S. 125-156..

Abbildungen (4)

Das Copyright am Brieftext liegt bei: Ariane Phillips

Projektphase 1: -
Projektphase 2: Transkription (Hedwig Munscheck-von Pölnitz) | Textauszeichnung (Andreas Öffner) | Kommentar (Hedwig Munscheck-von Pölnitz/Andreas Öffner)

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