Digitale Briefausgabe Ernst Kantorowicz

Inv.-Nr. 3154: Ernst H. Kantorowicz an Paul Fridolin Kehr, 07.05.1933

Metadaten

Inventar-Nr.: 3154
Dateiname: d19330507_kantorowicz_kehr.xml
Empfänger: Paul Fridolin Kehr Paul Fridolin Kehr (1860-1944), dt. Historiker. 1903-1936 kommissarischer Direktor des Preußischen Historischen Instituts in Rom, 1915-1929 Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive bzw. Direktor des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, ab 1917 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte. Zwischen 1919 und 1935 gewählter Vorsitzender der Zentraldirektion der MGH, 1935/36 kommissarisch beauftragter Leiter des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde.
Schreib-/Versandort: Frankfurt am Main
Empfängerort: -
Datum des Schreibens: 07.05.1933
Datum des Poststempels: -
Korrespondenzform: Brief
Typ: Typoskript
Umfang: 1 Bl., 2 S.
Aufbewahrung: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz/VI. HA, Nl Kehr, P. F., Nr. 20, Bl. 109r-v

Brieftext

PROF. DR. ERNST KANTOROWICZ

FRANKFURT A. M.
BOCKENHEIMER LANDSTR. 72
TELEFON 72118

7.5.33.

[1]

Hochverehrter, lieber Herr Geheimrat!

Die allzu nah an einen herantretenden Fragen der Gegenwart haben mich in den letzten Wochen davon abgehalten, in die Vergangenheit hinabzusteigen [2] , und so warten die jüngeren Karolinger, über deren Kanzleien Sie mir so sehr freundlicher Weise Ihre Abhandlung Paul Fridolin Kehr, Die Kanzleien Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 1933, Nr. 1), Berlin 1933. zugehen liessen, noch immer darauf, von mir gelesen zu werden. Aber das ist kein Grund, Ihnen nicht auch jetzt schon für Ihr liebenswürdiges Gedenken meinen herzlichsten Dank auszusprechen, den ich gleichzeitig mit meinem Dank für Ihre Grüsse verbinden möchte, die mir MommsenTheodor E. Mommsen (1905-1958), dt. Mittelalter- u. Renaissancehistoriker, seit 1936 in den USA (1938-1942 Instructor in Yale, 1946-1954 Assistant bzw. Associate Professor an der Princeton University, 1954-1958 Full Professor an der Cornell University). Freund Kantorowicz' aus seiner Zeit bei den MGH, der ihn dann maßgeblich darin unterstützte, in den USA Fuß zu fassen, und auch seine Berufung ans IAS in die Wege leitete. übermittelte.

Von den Geschehnissen der letzten Wochen und Monate ist an sich ja niemand überrascht worden – überraschend war lediglich die Form, in der sich gerade in academicis die Umwälzung vollzog [3] . Dass auch ich – obwohl von dem Beamtengesetz als alter Kriegsknecht nicht berührt [4] – unter den gegenwärtigen Umständen meine Beurlaubung erbitten musste [5] , wird Ihnen, der Sie mich ja kennen, nur als selbstverständlich erschienen sein, und selbst wenn sich alles wieder beruhigt haben sollte, sehe ich nicht, wie ich meine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen könnte, nachdem die Fähigkeit zu dem einzig Wichtigen des Hochschullehrers: junge Menschen zu wissenschaftlichem Arbeiten hinzuführen und sie zu Menschen zu machen, mir als "Fremdrassigem" seitens des MinisteriumsPreußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ("Kultusministerium"); Berlin tagtäglich abgesprochen wird [6] .

Ich muss gestehen, dass mir dieser Verzicht nicht sehr leicht wird. Gerade in dem vergangenen Wintersemester, dem ersten für das ich voll verantwortlich zeichnete, hatte ich doch eine ganze Anzahl von Studenten gewonnen, mit denen man gut hätte weiterarbeiten |Seitenwechsel können, nachdem bei ihnen das Interesse geweckt war [7] . Nun sehe ich nicht, wie die sich ganz erfreulich anlassenden mediaevistischen Studien wieder in Fluss kommen sollen, wenn immer wieder die Stetigkeit unterbrochen wird.

Das einzig Erfreuliche ist die Tatsache, dass meine unfreiwillige Musse mich wieder zum eignen Arbeiten kommen lässt, und so werde ich jetzt endlich auch die Möglichkeit haben, mich den einmal übernommenen "Annales Placentini Annales Placentini (Annalen von Piacenza) " zu widmen [8] . Andere Arbeiten, die begonnen waren, bedürfen doch erst einer etwas beruhigteren Aussen-Atmosphäre: es ist oft kaum möglich, sich so zu konzentrieren, wie es notwendig ist [9] . Aber allmählich bekommt man es ja auch satt, seine geistige Nahrung sich durch die Zeitungen aufzwingen zu lassen, und man ist froh, wenn man durch seine Arbeiten sich von der unaufhörlichen Folge von Fackelzügen, Geburtstags- und Maifeiern etwas absetzen kann. Ueberhaupt hat die Ungleichschaltung auch ihren sehr bestimmten Eigenwert, und die hohen Voltspannungen ergibt ja meines Wissens eher der Wechselstrom als der unausgesetzte Gleichstrom [10] .

Mich mit Ihnen, sehr verehrter Herr Geheimrat, nicht über die Geschehnisse aussprechen zu können, bedauere ich sehr oft. Denn in vieler Beziehung den Ereignissen sehr viel näher als ich werden Sie ja ganz gewiss Ihre überzeitliche Stellung auch in diesem Fall zu wahren gewusst haben. Und Derartigem begegnet man ja heute nicht allzu häufig. Aber vielleicht komme ich im Laufe des Sommers nach BerlinBerlin und würde mich dann sehr freuen, Sie dort antreffen zu können.

Indem ich Ihnen nochmals für Ihr Gedenken meinen besten Dank sage, verbleibe ich mit den verbindlichsten Grüssen stets in gleicher Ergebenheit

Ihr
Ernst Kantorowicz.

1Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Unterhalb des Briefkopfes der blaue Buntstiftvermerk Kehrs "20/V", der auf eine Beantwortung des Schreibens am 20.05.1933 schließen lässt.

2Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Walther/Ernst, Ernst H. Kantorowicz (1998) Peter Th. Walther/Wolfgang Ernst, Ernst H. Kantorowicz. Eine archäo-biographische Skizze, in: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, hg. v. Wolfgang Ernst/Cornelia Vismann, München 1998, S. 207-231., S. 214 ziehen diesen Passus als Beleg dafür heran, dass Kantorowicz "nach Hitlers Machtergreifung [...] in die Offensive" ging, statt sich auf "gelehrte Anachorese" zu verlegen.

3Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Hintergrund ist das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 (hier online auf der Seite des Bundesarchivs).

4Verfasst von: Andreas Öffner. Vgl. die in §3 (2) des Gesetzes (s.o.) getroffene Ausnahme für Frontkämper. Als "alter Kriegsknecht" bezeichnet sich Kantorowicz im selben Kontext auch gegenüber Percy Ernst Schramm (Inv.-Nr. 102Inv.-Nr. 102: Ernst H. Kantorowicz an Percy Ernst Schramm, Mai/Juni 1933).

5Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Vgl. Ernst Kantorowicz an den Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20.04.1933 (Inv.-Nr. 3164Inv.-Nr. 3164: Ernst H. Kantorowicz an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20.04.1933: Kohledurchschlag im Privatarchiv Robert E. Lerner, maschinenschriftliche Kopie im UAF, Abt. 14, Nr. 101, Bl. 28r–v). Zum Kontext, zum Schreiben und zu den vorausgehenden Entwürfen Kantorowicz' vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 193-198.

6Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Anfeindungen kamen freilich nicht nur von Seiten des Ministeriums: Der Bundesverband Groß-Hessen des "Stahlhelm" etwa hatte bereits in einem Schreiben vom 7. März 1933 in Bezug auf die Johann Wolfgang von Goethe-Universität personelle Konsequenzen "[f]ür eine gewisse politische Besserung der Frankfurter Verhältnisse" gefordert, da der "Lehrkörper […] zu 70% stark verjudet bezw. sozialistisch eingestellt" sei. Unter den Personen, die als "besonders schädlich in dieser Richtung" aufgelistet worden waren, befand sich unter Nr. 7 Kantorowicz, vgl. das Schreiben an das Bundesamt, politische Abteilung vom 07.03.1933 (Berlin, GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va Sekt. 5, Tit. IV, Nr. 1, Bl. 279–280, hier Bl. 279).

7Verfasst von: Andreas Öffner. Gemeint sein dürfte damit wohl auch der (bzw. die) ein oder andere aus der Gruppe von neun Studierenden, die im Sommersemester 1933 zu einem Privatseminar in Kantorowicz' Wohnung zusammenkam; vgl. die Namenliste im LBI, AR 7216/MF 561, Box: I, Folder: I/1/5, n. 129 sowie Lerner, Kantorowicz and Frankfurt (1997) Robert E. Lerner, "Meritorious Academic Service": Kantorowicz and Frankfurt, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 14-32. , S. 27-29.

8Verfasst von: Andreas Öffner. Zu diesem Editionsprojekt vgl. auch den Kommentar zu Inv.-Nr. 3025Inv.-Nr. 3025: Ernst H. Kantorowicz an Paul Fridolin Kehr, 15.03.1930.

9Verfasst von: Andreas Öffner. Gemeint sein dürfte v.a. das als solches nie abgeschlossene Interregnum-Buch Ernst H. Kantorowicz, Interregnum [nicht realisiert]. ; vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 188 f.

10Verfasst von: Hedwig Munscheck-von Pölnitz. Auch diesen Absatz zitieren Walther/Ernst, Ernst H. Kantorowicz (1998) Peter Th. Walther/Wolfgang Ernst, Ernst H. Kantorowicz. Eine archäo-biographische Skizze, in: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, hg. v. Wolfgang Ernst/Cornelia Vismann, München 1998, S. 207-231., hier S. 222, um Kantorowicz' Position "an den Grenzen der gelehrten Anachorese" zu umreißen.

Abbildungen (2)

Das Copyright am Brieftext liegt bei: Ariane Phillips

Projektphase 1: -
Projektphase 2: Transkription (Hedwig Munscheck-von Pölnitz) | Textauszeichnung (Andreas Öffner) | Kommentar (Hedwig Munscheck-von Pölnitz/Andreas Öffner)

Zitierlink zu diesem Datensatz: https://data.mgh.de/databases/eka/eka3154

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