Digitale Briefausgabe Ernst Kantorowicz

Inv.-Nr. 102: Ernst H. Kantorowicz an Percy Ernst Schramm, Mai/Juni 1933

Metadaten

Inventar-Nr.: 102
Dateiname: d1933XXXX_kantorowicz_schramm.xml
Empfänger: Percy Ernst Schramm Percy Ernst Schramm (1894-1970), dt. Historiker und nach dem Krieg einflussreicher Historiker als Mediävist und als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs; Mitglied der Zentraldirektion der MGH
Schreib-/Versandort: -
Empfängerort: Göttingen
Datum des Schreibens: Mai/Juni 1933
Datum des Poststempels: -
Korrespondenzform: Brief
Typ: Typoskript
Umfang: 2 Bl., 2 S.
Aufbewahrung: Staatsarchiv Hamburg/622-1/151_L 230 Band 6

Brieftext

[1]

Lieber Percy Schramm,

Wir haben lange nichts voneinander gehört - aber es ist ja nur begreiflich, dass man umso intensiver verstummt, je mehr die Ohren durch unzuträgliche Nachrichten überfüttert werden. Das ist also auch eine Art "Stoffwechsel". Im übrigen gibt es von mir auch nicht allzu viel Persönliches zu berichten, da dieses ja doch amtlich geregelt wird und dadurch aus den täglichen Verordnungen zu ersehen ist. Dass ich von mir aus für das Sommersemester um Urlaub nachgesucht habe [2] , obwohl ich als alter Kriegsknecht und Spartakussieger nicht unter das Beamtengesetz falle [3] , werden Sie vermutlich gehört haben. Was die Zukunft bringt, weiss ich natürlich nicht. Die inneren Schwierigkeiten, als Mittelhistoriker zu lesen, sind begreiflicherweise besonders gross in meiner Lage. Als Mineraloge wäre es einfacher, da der Dodekaeder Doedekaeder bleibt und unter keinem Regime einem Oktogon gleichzuschalten wäre [4] .

Indessen schreibe ich Ihnen heute mehr im Auftrage des SeminarsUniversität Frankfurt am Main, Historisches Seminar; Frankfurt am Main , welches zu seinem Bedauern festgestellt hat, dass es mit GöttingenGeorg-August-Universität Göttingen, Historisches Seminar; Göttingen keine Dissertationen der mittleren und neueren Geschichte austauscht. Wenn es also auch in Ihrem Interesse liegen sollte, wie es in dem unseren liegt, diese Elaborate einer antiquierten Universitätsverfassung, solange solche noch erscheinen, möglichst vollständig zu besitzen, so wäre ich Ihnen für eine diesbezügliche Mitteilung dankbar. Ich würde dann veranlassen, dass Ihnen die Arbeiten der letzten Semester zugestellt werden, und Sie, dass uns ... usw.

Werden Sie im Spätsommer nach WarschauWarschau (heute Warszawa, Polen) [5] gehen? Ich war einigermassen überrascht zu hören, dass der Historikertag doch von unserer Seite beschickt wird [6] . Bei der Stimmung in Polen wird man unter Umständen doch Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein können, wenn man nicht von allem Anfang LeydenerLeiden (Niederlande) Vorfällen vorbeugt [7] , indem man möglichst nur "besonnene" Leute vorschickt. Aus diesem Grunde hielte ich es eigentlich auch für recht wünschenswert, wenn Sie selbst nach WarschauWarschau (heute Warszawa, Polen) gingen [8] , zumal Sie sich doch stets sehr stark mit dem Osten beschäftigt haben [9] .

Sie auf einer Durchreise oder zu einem Wochenende in GöttingenGöttingen zu besuchen, ist noch immer ein Wunsch, den ich nun aber doch einmal mir erfüllen werde. Wann sind Sie denn in den Ferien zu Haus? Im September?

Ich bleibe, lieber P.E., wie stets mit den besten Grüssen und Wünschen und meinen Empfehlungen an Ihre FrauEhrengard Schramm, geb. von Thadden (1900-1985), dt. Politikerin (SPD) und Ehefrau des Historikers Percy Ernst Schramm (verh. 1925)

Ihr
EKa.

1Verfasst von: Andreas Öffner. Ohne Datum. Laut Lerner, Kantorowicz and Frankfurt (1997) Robert E. Lerner, "Meritorious Academic Service": Kantorowicz and Frankfurt, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 14-32. , S. 27, Anm. 55 wurde der Brief "evidently late May, 1933" verfasst, Grünewald, Übt an uns mord (1997) Eckhart Grünewald, "Übt an uns mord und reicher blüht was blüht". Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das "Geheime Deutschland", in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 37-76. , S. 60, Anm. 15 datiert ihn vorsichtiger auf "Mai oder Juni 1933".

2Verfasst von: Andreas Öffner. Zum 'Urlaubsgesuch', das Kantorowicz am 20. April (mithin Hitlers Geburtstag) beim Kuratorium der Frankfurter Universität eingereicht hatte, vgl. Grünewald, Übt an uns mord (1997) Eckhart Grünewald, "Übt an uns mord und reicher blüht was blüht". Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das "Geheime Deutschland", in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 37-76. , S. 59 f. sowie Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 193-198; letzterer mit einer Sichtung der verschiedenen Entwürfe sowie eines vorausgehenden, gleichfalls nicht abgesandten Gesuchs beim Staatskommissar für das Unterrichtswesen in der preußischen Provinz Hessen-Nassau, ihn (lediglich) von der Lehrpflicht zu entbinden. Ebd. S. 495, Anm. 17 (zu S. 197): "Bemerkenswerterweise hatte EKa im letzten Entwurf das Wort 'vorläufig' beim Beurlaubungsgesuch durchgestrichen, aber in der abgesandten Version beibehalten. Offenbar hatte er entschieden, ausdrücklich zu betonen, dass sein Gesuch vorläufig war, d.h. sich nur auf das kommende Semester bezog."

3Verfasst von: unbekannt. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 (hier online auf der Seite des Bundesarchivs) enthielt im "Arierparagraphen" §3 die Ausnahme §3 (2): "(2) Abs. 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Vater oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Fachminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland zulassen." Gleichwohl stellte Kantorowicz dem Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 20.4.1933 ein Beurlaubungsgesuch; vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 197 f.

4Verfasst von: Martina Hartmann. Zu Kantorowicz' "Angst und [...] Unsicherheit darüber, was als Nächstes folgen solle", vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 200 (mit Zitat der naturwissenschaftlichen Metapher und Verweis auf eine ähnliche Äußerung gegenüber Paul Kehr in Inv.-Nr. 3155Inv.-Nr. 3155: Ernst H. Kantorowicz an Paul Fridolin Kehr, 06.06.1933, ausführlicher zitiert bei Walther/Ernst, Ernst H. Kantorowicz (1998) Peter Th. Walther/Wolfgang Ernst, Ernst H. Kantorowicz. Eine archäo-biographische Skizze, in: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, hg. v. Wolfgang Ernst/Cornelia Vismann, München 1998, S. 207-231., S. 215); zuvor schon Lerner, Kantorowicz and Frankfurt (1997) Robert E. Lerner, "Meritorious Academic Service": Kantorowicz and Frankfurt, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 14-32. , S. 27 und Grünewald, Übt an uns mord (1997) Eckhart Grünewald, "Übt an uns mord und reicher blüht was blüht". Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das "Geheime Deutschland", in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 37-76. , S. 59 f.

5Verfasst von: unbekannt. Gemeint ist der VII. Internationale Historikertag in Warschau, 21.-29. August 1933.

6Verfasst von: Andreas Öffner. Die Teilnahme am Warschauer Historikertag wurde wegen der politisch-rechtlichen Lage in Polen und nationalistischen Vorbehalten gegen die Existenz des Staates auf deutscher Seite im Vorfeld kontrovers diskutiert; zuletzt erfolgte sie auf Weisung von Auswärtigem Amt und Innenministerium, nachdem der Vorsitzende des Verbandes deutscher Historiker und Vizepräsident des (die Kongressreihe organisierenden) "Comité International des Scieneces Historiques", Karl Brandi, noch im Sommer eine Reihe von Bedingungen ausgehandelt, dann aber wieder gezögert und eine Absage in Erwägung gezogen hatte (vgl. Wegeler, Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus (1996) Cornelia Wegeler, "... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik". Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962, Köln-Weimar-Wien 1996. , S. 155). Kantorowicz dürfte sich aber auf einen früheren Stand der Entscheidungsfindung beziehen: Brandi hatte dem "Außenamt" am 4. Mai ein Memorandum vorgelegt, das die Teilnahme gegen ihre Alternativen abwog und befürwortete, am 10./11. Juni wurde sie vom Vorstand des Verbandes deutscher Historiker beschlossen (vgl. Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft (1987) Wolfgang Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, 2), Göttingen 1987, S. 287-320. , S. 303 f.).

7Verfasst von: Andreas Öffner. An der Universität Leiden war ab dem 7. April 1933 ein deutsch-französisch-englischer Kongress des "International Student Service" ausgerichtet worden. An der Spitze der deutschen Delegation stand der nationalsozialistische Publizist und Hochschuldozent Johann von Leers. Als dem Leidener Mediävisten und Universitätsrektor Johan Huizinga im Laufe der Tagung zugetragen wurde und sich bestätigte, dass von Leers Verfasser eines antisemitischen Pamphlets war, das unter dem Titel "Forderung der Stunde, Juden 'raus!" die Ritualmordlegende propagierte, verwies er ihn am 11. April der Universität und verweigerte einen Handschlag, der Kongress endete vorzeitig. Vgl. Otterspeer, Huizinga before the Abyss (1997) Willem Otterspeer, Huizinga before the Abyss. The von Leers Incident at the University of Leiden, Arpill 1933. Translated by Lionel Gossman and Reinier Leushuis, with an introduction and afterword by Lionel Gossman, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 27/3 (1997), S. 385-444. und Krumm, Johan Huizinga, Deutschland und die Deutschen (2011) Christian Krumm, Johan Huizinga, Deutschland und die Deutschen. Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Nachbarn (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas), Münster u.a. 2011. , S. 201-203.

8Verfasst von: unbekannt. Percy Ernst Schramm nahm am Kongress teil und hielt einen Vortrag zur Ordines-Forschung; vgl. Brandi, Der siebente internationale Historikerkongreß (1934) Karl Brandi, Der siebente internationale Historikerkongreß zu Warschau und Krakau, 21. bis 29. August 1933, in: Historische Zeitschrift 149 1934, S. 213-220. , S. 218 und Schramm, Zur Geschichte der mittelalterlichen Königskrönung (1933) Percy Ernst Schramm, Zur Geschichte der mittelalterlichen Königskrönung, in: Forschungen und Fortschritte 9 (1933), S. 424 f. . Seine und Brandis Teilnahme führte zum Skandal mit dem Göttinger Professor für Alte Geschichte Ulrich Kahrstedt, der den Mitgliedern der deutschen Delegation in Warschau "Internationalismus" und Verrat am "deutschen Volk" vorwarf. Da Kahrstedt betonte, dass in anderen Ländern an solchen Professoren Lynchjustiz geübt würde, forderten Brandi und Schramm ihn nach Ende des Vortrags zum Duell auf Pistolen. Vgl. Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft (1987) Wolfgang Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg. v. Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, 2), Göttingen 1987, S. 287-320. , S. 304-307; Wegeler, Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus (1996) Cornelia Wegeler, "... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik". Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962, Köln-Weimar-Wien 1996. , S. 154-157; Thieler, Gemischtes Doppel (1921) Kerstin Thieler, Gemischtes Doppel. Die Auseinandersetzung des Historikers Percy Ernst Schramm und seiner Frau Ehrengard mit dem Nationalsozialismus zwischen Schuld, Verdrängung und Verantwortung, in: Strategien der Selbstbehauptung. Vergangenheitspolitische Kommunikation an der Universität Göttingen (1945-1965), hg. v. Petra Terhoeven/Dirk Schumann (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 36), Göttingen 1921, S. 55-99. , S. 72.

9Verfasst von: unbekannt. In seiner Antrittsrede als Privatdozent in Heidelberg vom 03.05.1924 hatte Schramm über "Die historischen Grundlagen der Grenzstaaten des deutschen Ostens" gesprochen und formuliert: "Die neuen Staaten sind eine Wirklichkeit, mit der wir uns jetzt abfinden müssen; sie sind aber auch eine Vergangenheit, die durch das Machtgebot einer gegen uns gerichteten Koalition wieder aus den Gründen aufgetaucht ist, in die wir sie ehemals heruntergedrückt haben. Diese über die bisherigen Reichsgrenzen vorgeschobenen Staaten schöpfen ihre Kraft nicht nur aus papiernen Paragraphen, sondern auch aus der Erinnerung an eine tausendjährige Geschichte. Deshalb ist es notwendig, daß wir - genau so wie wir das westliche Verhängnis in einer historischen Perspektive sehen - uns gewöhnen, auch die Umwälzung im Osten in einen geschichtlichen Rahmen hineinzustellen". Zitiert nach den von Percy Ernst Schramm 1971 publizierten Notizen: Schramm, Die 1919 geschaffene Lage (1971) Percy Ernst Schramm, Die 1919 geschaffene Lage. Ein Rückblick nach dem 1. Weltkrieg. (Aus der Antrittsrede als Privatdozent, Heidelberg, 3. Mai 1924), in: Ders., Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 4/2: Beiträge zur Allgemeinen Geschichte. Zur Geschichte von Süd-, Südost- und Osteuropa. Zusammenfassende Betrachtungen, Stuttgart 1971, S. 483-485. , S. 484. Im Wintersemester 1924/1925 las Schramm über "Geschichte des katholischen Osteuropa". Vgl. Thimme, Percy Ernst Schramm (2006) David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 75), Göttingen 2006., S. 197 und 199.

Abbildungen (2)

Das Copyright am Brieftext liegt bei: Ariane Phillips

Projektphase 1: Transkription | Textauszeichnung | Kommentar
Projektphase 2: Textauszeichnung (Andreas Öffner) | Kommentar (Eckhart Grünewald/Martina Hartmann/Andreas Öffner)

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