Digitale Briefausgabe Ernst Kantorowicz

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Inv.-Nr. 101: Ernst H. Kantorowicz an Percy Ernst Schramm, 25.09.1932

Metadaten

Inventar-Nr.: 101
Dateiname: d19320925_kantorowicz_schramm.xml
Empfänger: Percy Ernst Schramm Percy Ernst Schramm (1894-1970), dt. Historiker und nach dem Krieg einflussreicher Historiker als Mediävist und als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs; Mitglied der Zentraldirektion der MGH
Schreib-/Versandort: Frankfurt am Main
Empfängerort: -
Datum des Schreibens: 25.09.1932
Datum des Poststempels: -
Korrespondenzform: Brief
Typ: Typoskript
Umfang: 2 Bl., 3 S.
Aufbewahrung: Staatsarchiv Hamburg/622-1/151_L 230 Band 6

Brieftext

Frankfurt a.M., 25.Sept.1932.
Bockenheimer Landstr.72.

Mein lieber Percy Schramm!

Ich weiss nicht: ist es jetzt nicht schon fast unanständing Ihnen für Ihre "weiland" Glückwünsche [1] überhaupt noch zu danken, oder wäre es nicht beinahe höflicher, so zu tun, als sei meine Antwort verloren gegangen?

Nun habe ich aber von BaethgenFriedrich Baethgen (1890-1972), dt. Historiker, 1913 bei Karl Hampe über die "Regentschaft von Papst Innozenz III." promoviert. Nach der Habilitation (1920) bei den MGH in Berlin beschäftigt, 1924-1927 außerordentlicher Professor in Heidelberg, wo er Kantorowicz kennenlernte. 1927-1929 2. Sekretär am Preussischen Historischen Institut in Rom, 1929-1939 Ordinarius für Geschichte in Königsberg, 1939-1948 in Berlin, 1948-1959 Präsident der MGH in München., der mich hier auf einer Durchreise besuchte, gerade erfahren, dass Sie wieder Vater eines SohnesGebhard Schramm (1932-?), dt. Ingenieur; Sohn des Historikers Percy Ernst Schramm geworden sind, und da kann ich so gut den Dank für Ihre Glückwünsche verbinden mit meinen Glückwünschen zu diesem Ereignis, dass ich beides jetzt nicht mehr hinauszögern will. Zweifellos ist Ihr Anlass beglückwünscht zu werden etwas Lebendigeres als ein o. ö. Lehrstuhl [2] .. aber sowohl einen Sohn in die Welt zu setzen wie einen Lehrstuhl zu übernehmen fordert heute einen - wenn auch anders gearteten - Optimismus, und so ist unsere gemeinsame Basis wieder einmal hergestellt, indem wir beide Anlass haben, uns gegenseitig zu unserem Optimismus zu gratulieren, der in unserer sekuritätslosen Zeit vielleicht noch das Einzige ist, was einem einen Rest dieser Sekurität sichern kann [3] . Also, mein Lieber, auf eine gute Zukunft des PercyculusGebhard Schramm (1932-?), dt. Ingenieur; Sohn des Historikers Percy Ernst Schramm und meine allerbesten |Seitenwechsel Wünsche und Glückwünsche an Ihre Frau GemahlinEhrengard Schramm, geb. von Thadden (1900-1985), dt. Politikerin (SPD) und Ehefrau des Historikers Percy Ernst Schramm (verh. 1925)!

Ausserordentlich leid tat es mir, dass ich nicht zum Historikertag [4] kommen konnte, was ich vorausgesehen hatte - doppelt leid, als ich die einstimmig überaus günstigen Urteile über den Verlauf dieser Tagung zu hören bekam [5] . Ich musste nur bedauerlicher Weise gleich nach Semesterschluss einen Termin wahrnehmen, der meine Anwesenheit in BerlinBerlin erforderte, und so war es mir unmöglich zu kommen. Offenbar hat dieser Tag zum ersten Mal wieder eine eigne Farbe gehabt und nicht chamäleonhaft geschillert. Und was mir das Erfreulichste war, ist die Tatsache, dass die Historiker hier einmal mit unverkennbarem Schneid politisch gewesen sind, statt sich auf ihre Voraussetzungslosigkeit zurückzuziehen. Es war da ein neuer Ton, den man bisher, seit dem Kriegsende, stark vermisst hat und auf meine Mühlen [6] ist es natürlich Wasser, dass hier quasi der Erweis erbracht wurde für die These: der nationale Impetus sei Voraussetzung für eine nicht fossile Auffassung der Geschichte und Erfassung der Geschichte [7] . Dass gerade "Ihr" [8] Historikertag diese Schwenkung oder diesen Elan hervorgebracht hat, ist mir eine grosse Freude gewesen.

Uebrigens habe ich es auch noch aus rein praktischen Gründen bedauert, die diversen Diskussionen über den Osten [9] |Seitenwechsel nicht mitangehört zu haben, da ich selbst mich diesen Fragen - wenn auch etwas ad hoc - genähert habe. Ich lese im Winter über die "Normannen in der europäischen Geschichte" [10] und werde gerade die Ostseite der normannischen Staatsbildungen und Kolonisationen stark herausarbeiten. Leider fehlen einem doch allzusehr die Kenntnisse der slavischen Sprachen, die jetzt noch zu lernen einem neben der Geduld vor allem die Zeit fehlt.

Das ist natürlich die Kehrseite dieser meiner neuen Medaille. Ich würde so sehr gern mein Ihnen damals in HalleHalle/Saale in der Weinstube gegebenes Versprechen erfüllen und wirklich "politische" Geschichte schreiben [11] , wüsste sogar Wie und Was [12] - aber leider ist das jetzt in den ersten Semestern für mich so gut wie unmöglich und ich werde froh sein, wenn ich hier und da irgendeinen halbfertigen Aufsatz abschliessen kann. Durch mein Hinein-dropen in die Kollegleserei etc. macht mir das alles natürlich mehr Mühe wie einem normalerweise Privatdozent-Gewesenen [13] , und so werde ich alles Eigene vorerst gänzlich zurückstecken müssen. Aber dieses Los teile ich schliesslich mit den Meisten und in ein paar Jahren, wenn es dann noch Universitäten gibt, werde ich auch wieder etwas freier sein.

1Verfasst von: Andreas Öffner. Gemeint sein könnten Glückwünsche zu Kantorowicz' Geburtstag am 9. September; angesichts des Folgenden scheint aber wahrscheinlicher, dass Schramm zur Frankfurter Professur gratuliert hatte.

2Verfasst von: Andreas Öffner. Kantorowicz, der seit 1931 zunächst als Privatdozent in Frankfurt gelehrt hatte, war am 18. August 1932 zum "ordentlichen öffentlichen Professor" in Nachfolge des verstorbenen Fedor Schneider ernannt worden. Vor ihm auf der Liste firmierte Friedrich Baethgen; Schramm wäre der Favorit der Berufungskommission gewesen, hatte aber keinen Listenplatz erhalten, da man nicht damit rechnete, dass er seine Göttinger Professur aufgeben würde. Vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 183-185.

3Verfasst von: unbekannt. Neben der anhaltenden Weltwirtschaftskrise sind die politischen Ereignisse seit Sommer 1932 gemeint: militärischer Ausnahmezustand und NSDAP stärkste Fraktion nach der Reichstagswahl (Juli), Sturz von Papens und Auflösung des Reichtags (12. September).

4Verfasst von: unbekannt. Gemeint ist der 18. Deutsche Historikertag, der vom 2.-4. August 1932 in Göttingen stattfand. Für Programm und Verlauf vgl. den Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker (1933) Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker in Göttingen, 2.-5. August 1932, München-Leipzig 1933. oder Maschke, Der 18. Deutsche Historikertag (1933) Erich Maschke, Der 18. Deutsche Historikertag in Göttingen. 1. bis 4. August 1932, in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 263-265. .

5Verfasst von: Andreas Öffner. Laut Maschke, Der 18. Deutsche Historikertag (1933) Erich Maschke, Der 18. Deutsche Historikertag in Göttingen. 1. bis 4. August 1932, in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 263-265. , S. 263 "war die Tagung vor allem Fragen aus der Geschichte des deutschen und europäischen Ostens gewidmet"; als die "eigentliche Arbeitsleistung" macht der Berichterstatter die zwischen den Vorträgen stattfindende "Diskussion über die Kriegsschuldfrage" (ebd. S. 264) aus.

6Verfasst von: Andreas Öffner. In seinem kontroversen Vortrag auf dem Hallischen Historikertag von 1930, der die Kontroverse mit Albert Brackmann aus den Zeitschriften auf die Bühne brachte, hatte Kantorowicz die Überzeugung vertreten, dass die historische "Wahrheit nur in der Nation" zu greifen sei; vgl. Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte, hg. v. Grünewald (1994) Ernst H. Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte, Vortrag auf dem Historikertag in Halle (1930), ed. Eckhart Grünewald, Sanctus amor patriae dat animum - ein Wahlspruch des George-Kreises? Ernst Kantorowicz auf dem Historikertag zu Halle a. d. Saale im Jahr 1930 (mit Edition), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50/1 (1994), S. 89-125, hier S. 104-125., S. 124. Dabei gilt ihm "der erhabne Schwung des deutschen Universalismus" und "der harte nüchterne Nationalstaatsgedanke" als positiv besetzter Gegenpol zum "nationalistischen Chauvinismus", dem er "rauhbeinige[...] Hilflosigkeit" attestiert (ebd. S. 123).

7Verfasst von: unbekannt. Die Einforderung einer "deutschen Geschichtsauffassung" und das Verständnis des Historikertags als Veranstaltung, die "neben dem wissenschaftlichen Charakter auch den einer Kundgebung tragen sollte" (Friedrich Oertel), vertraten vor allem Hans Rothfels und Karl Brandi. Vgl. den Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker (1933) Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker in Göttingen, 2.-5. August 1932, München-Leipzig 1933. .

8Verfasst von: unbekannt. Schramm, seit 1929 Ordinarius in Göttingen, war an der Organisation des Historikertags beteiligt.

9Verfasst von: unbekannt. An Vorträgen zum "Osten" wurden laut Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker (1933) Bericht über die 18. Versammlung Deutscher Historiker in Göttingen, 2.-5. August 1932, München-Leipzig 1933. gehalten: "Die Ostgrenze des alten deutschen Reiches, Entstehung und staatlicher Charakter" (Hermann Aubin), "Anfänge des Nationalbewußtseins im deutsch-slavischen Grenzraum" (Erich Maschke), "Die russische Politik am Vorabend des Weltkriegs, Januar bis Juni 1914" (Hans Herzfeld), "Die Beziehungen zwischen Oder-Weichsel-Gebiet und Südrußland in der frühen Eisenzeit" (Kurt Tackenberg), "Die Anfänge des polnischen Staates" (Walther Recke), "Die Geschichte Osteuropas und die Geschichte des Slaventums als Forschungsprobleme" (Josef Pfitzner), "Bismarck und der Osten, ein Beitrag zu einigen Grundfragen deutscher Geschichtsauffassung" (Hans Rothfels).

10Verfasst von: unbekannt. Kantorowicz' erste Vorlesung in Berkeley trug den selben Titel "The Normans in European History" (1939). Das Manuskript mit der polemischen Wendung "And it obviously was not very becoming to the Germans that they never were normanized" liegt im LBI, AR 7216/MF 561, Box: IV, Folder: IV/9/4, das Zitat n. 1108.

11Verfasst von: Andreas Öffner. Sein Historikertag-Vortrag von 1930 (s.o.) selbst war als "aktuelle Programmrede[...]" wahrgenommen worden (vgl. Grünewald, Sanctus amor (1994) Eckhart Grünewald, Sanctus amor patriae dat animum - ein Wahlspruch des George-Kreises? Ernst Kantorowicz auf dem Historikertag zu Halle a. d. Saale im Jahr 1930 (mit Edition), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50/1 (1994), S. 89-125. , S. 97). In der anschließenden Diskussion scheint sich Schramm nicht engagiert zu haben (vgl. Grünewald, Kantorowicz und Stefan George (1982) Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und seinem Jugendwerk "Kaiser Friedrich der Zweite" (Frankfurter historische Abhandlungen 25), Wiesbaden 1982. , S. 97), er gilt aber Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 162 als "Ekas einziger Verbündeter" unter den Ordinarien, wozu auch das informelle Treffen im Weinlokal passt.

12Verfasst von: Andreas Öffner. Gemeint sein könnte Kantorowicz' Projekt zum deutschen Interregnum des 13. Jahrhunderts, das letztlich nicht in einem eigenen Buch mündete, sondern in "The King's Two Bodies" aufging (vgl. Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 242-244). Vier Monate zuvor hatte er an George geschrieben (Inv.-Nr. 915Inv.-Nr. 915: Ernst H. Kantorowicz an Stefan George, 22.05.1932): "Immerhin plane ich jetzt doch eine grössere arbeit, die mir zeitgemäss scheint, und zwar hiesse sie schlechthin: 'Interregnum' - wobei in der vorbemerkung zu sagen wäre, dass es sich nicht etwa um eine 'fortsetzung' des F.II. handle - sondern dass wie F.II. die eine ewigdeutsche möglichkeit sei so 'Interregnum' die andere. [...] Es ist eine schwierige arbeit - vor allem kompositionell!! Aber es wäre einmal politische geschichte statt biographie [...]."

13Verfasst von: Andreas Öffner. Zu Kantorowicz' 'Rückstand' im Lehr-Repertoire und dem hohen Stellenwert, den er dem akademischen Unterricht beimaß, vgl. mit Bezug auf den vorliegenden Brief Lerner, Kantorowicz and Frankfurt (1997) Robert E. Lerner, "Meritorious Academic Service": Kantorowicz and Frankfurt, in: Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton - Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, hg. v. Robert L. Benson/Johannes Fried (Frankfurter Historische Abhandlungen 39), Stuttgart 1997, S. 14-32. , S. 26 und Lerner, Kantorowicz (2020) Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020. , S. 186.

Abbildungen (3)

Das Copyright am Brieftext liegt bei: Ariane Phillips

Projektphase 1: Transkription | Textauszeichnung | Kommentar
Projektphase 2: Textauszeichnung (Andreas Öffner) | Kommentar (Martina Hartmann/Andreas Öffner)

Zitierlink zu diesem Datensatz: https://data.mgh.de/databases/eka/eka0101

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