Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter, hg. von Holger Kempkens / Christiane Ruhmann, Petersberg 2024, Michael Imhof Verlag, 656 S., 621 Farb- und 23 sw-Abb., ISBN 978-3-7319-1425-9, EUR 59,95. – Im Westwerkobergeschoss der Klosterkirche von Corvey stößt der erstaunte Betrachter auf eine für einen Kirchenraum außergewöhnliche mythologische Meereslandschaft: Der vor 885 dort angebrachte, fragmentarisch erhaltene Fries zeigt den homerischen Helden Odysseus im Kampf mit dem Ungeheuer Skylla und den Sirenen – christlich umgedeutet als Allegorie der Standhaftigkeit gegen das Böse. Ohne Zweifel bietet das mehr als 1200 Jahre alte Kloster Corvey einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um über das Verhältnis der ma. Klöster zur antiken Kultur, über Wissenstransfer und Antikenrezeption nachzudenken. Das Diözesanmuseum Paderborn widmete dem Thema „Corvey und das Erbe der Antike“ vom 21. September 2024 bis 26. Januar 2025 eine Sonderausstellung. Der zugehörige Ausstellungskatalog spannt einen weiten thematischen Bogen von der karolingischen Kloster- und Hofkultur bis hin zu den Stiftungen des Wibald von Stablo, der ab 1146 als Corveyer Abt amtierte und unter anderem einen Codex mit den damals auffindbaren Werken Ciceros in Auftrag gab. Räumlich konzentriert sich der Band auf Corvey und die westfälischen Klöster und Stifte, allein schon die Provenienzen der zusammengetragenen Objekte zeigen aber eindrucksvoll die europaweite Vernetzung der monastischen Institutionen des Früh- und Hoch-MA. Ausstellung und Katalog sind in sechs Abteilungen untergliedert. Die erste widmet sich dem mit Blick auf die Rezeption in der deutschen Kunstgeschichte höchst schwierigen Thema „Die Karolinger und die Antike“. Herausgehoben sei hier der einleitende und grundlegende Aufsatz von Manfred Luchterhandt (S. 31–47), der sich nicht zuletzt der Problematik der Begrifflichkeiten stellt und die poströmischen Eliten Westeuropas in ihren kulturellen Räumen und mit ihrer christlichen Prägung neu betrachtet. Die Frage, was „die Antike“ sei – so konstatiert L. ganz zu Recht –, hätten die Menschen im Früh-MA wohl nicht beantworten können. Im Katalogteil findet sich unter anderem eine materialreiche Abhandlung zu den neueren Forschungen zur Aachener Bärin, einem römischen Bronzeguss, der sich heute in der Vorhalle des Aachener Doms befindet (Lydia Konnegen, S. 106–110). Die zweite Abteilung konzentriert sich auf die Gründung von Corvey und die Ausstattung der Klosterkirche. Im dritten Teil rücken Corveyer Bibliothek und Skriptorium ins Zentrum der Betrachtung. Trotz der fast völligen Zerstörung der Corveyer Gründungsbibliothek sind die Wege der rekonstruierbaren Klassiker-Überlieferungen in und um Corvey atemberaubend (Patrizia Carmassi, S. 293–303), nicht zuletzt auch wegen der berühmten, in Fulda geschriebenen Tacitus-Hs. (Codex unicus für die ersten sechs Bücher der Annalen), die bis 1508 in der Corveyer Bibliothek lag und dann auf verschlungenen Wegen nach Florenz gelangte (Kat.-Nr. III.02). Die in den Beiträgen und Katalogartikeln dieses Abschnitts zusammengeführten Bildhss. mit der Schriftheimat Corvey im 9. und 10. Jh. ermöglichen einen neuen Blick auf die kunsthistorische und historische Bedeutung des kaisernahen Skriptoriums des Reichsklosters. Der vierte und fünfte Abschnitt weiten den Blick auf die Region Westfalen und ihre Klöster, insbesondere als Orte des Technologie-Transfers. Im Mittelpunkt steht die Reliquienburse der Stiftskirche in Enger (heute Kunstgewerbemuseum Berlin), die im späten 8. Jh. als hochrangige Auftragsarbeit aus exklusiven Materialien geschaffen wurde. Sie wurde im Vorfeld der Ausstellung in einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht und restauriert. Die Ergebnisse sind in fünf Beiträgen im Band dokumentiert (S. 443–481). Neue und überraschende Einsichten zur Antikenaneignung ergeben sich auch für westfälische Frauenstifte bzw. -klöster wie Nottuln oder Neuenheerse, die nicht zu den herrschernahen großen Konventen gehörten (Hedwig Röckelein, S. 515–525). Erwähnenswert ist die erstmalige vollständige öffentliche Präsentation der einzigen in Deutschland erhaltenen päpstlichen Papyrusurkunde, eines Privilegs für das Frauenstift Neuenheerse von 891 (Kat.-Nr. V.23a und b). Das untere Stück der Urkunde mit der Datierung lag seit über 200 Jahren unerkannt im Diplomatischen Apparat der Georg-August-Univ. Göttingen und konnte erst jüngst identifiziert und nun mit dem Papyrusrotulus aus dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, zusammengeführt werden. Die abschließende sechste Abteilung befasst sich mit der zweiten Blüte Corveys unter Abt Wibald von Stablo († 1158). Die mehr als 600 Farbabbildungen sind von hervorragender Qualität und tragen wesentlich zur Anschaulichkeit bei. Für alle, die sich mit Fragen zur Aneignung antiker Kultur, Bildung und Technologien befassen, ist der Band eine Fundgrube an Wissen und Inspiration.
Christian Popp