Stellvertretung im Mittelalter. Konzepte, Personen und Zeichen im interkulturellen Vergleich, hg. von Claudia Zey unter Mitarbeit von Linda Eichenberger / Johannes Luther (VuF 88) Ostfildern 2023, Jan Thorbecke Verlag, 482 S., Abb., ISBN 978-3-7995-6888-3, EUR 64. – Der Band versammelt die Beiträge einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für ma. Geschichte und wird durch zwei zusätzliche Studien von Enno Bünz und Hans-Werner Goetz ergänzt. Im Fokus stehen im MA zentrale, aber bislang erstaunlich wenig erforschte Konzepte und Praktiken von Stellvertretung. Konzeptionell konzentriert sich der Band auf religiös konnotierte und/oder kirchlich verankerte Formen, wobei der interkulturelle Vergleichshorizont durch Fallstudien zum byzantinischen Reich und den Ostkirchen, zum Islam, zum Mongolenreich und zu Japan geöffnet werden soll. So nähern sich die samt Einleitung und Fazit insgesamt 13 Beiträge dem Thema multiperspektivisch und unternehmen damit einen überfälligen Versuch, eine zentrale Kategorie vormoderner Legitimation analytisch zu durchleuchten. Zu Beginn bietet Claudia Zey (S. 9–25) in ihrer Einleitung eine Analyse des bisherigen Forschungsstands, um daraus besonders zwei Dimensionen von ‘Stellvertretung’ herauszuarbeiten: einerseits als legitimierendes Prinzip sakraler Herrschaft, andererseits als unverzichtbares Herrschafts- und Rechtsinstrument. Die Abgrenzung zu verwandten Konzepten wie Delegation und Repräsentation auslotend, plädiert Z. angesichts der begrifflichen wie phänomenologischen Vielfalt ma. Konstellationen für die heuristische Nützlichkeit der modernen Analysekategorie, die sie durch einen präzisen Fragenkatalog als Leitfaden für die folgenden Beiträge operabel macht. Als Auftakt der Einzelstudien untersucht Franz-Reiner Erkens (S. 27–71) die Entwicklung des Gedankens der göttlichen Stellvertretung in Konkurrenz zwischen Kaiser und Papst und zeigt, wie sich im 13. Jh. miteinander unvereinbare Ansprüche herausbildeten. David Ganz (S. 73–119, 16 Abb.) arbeitet Konzepte und Zeichen der Stellvertretung Christi auf bildtragenden liturgischen Gewändern heraus und plädiert in diesem Quellenzusammenhang für den Begriff der „Repräsentation“ im Sinn einer Verkörperung, die von Akteuren wie Objekten in Anspruch genommen werden kann. Konkret symbolische Formen päpstlicher Stellvertretung – etwa Amtsinsignien wie das Pallium – nimmt Jörg Bölling (S. 121–151) in den Blick und erkennt seit dem 11. Jh. eine zunehmende Institutionalisierung symbolischer Repräsentation sowohl der Person des Papstes als auch des Papsttums. Hans-Werner Goetz (S. 153–209) unterzieht die Begriffe vice und vicarius einer begriffsgeschichtlichen Analyse und kommt zu dem Ergebnis, dass es im Früh- und Hoch-MA viele Stellvertreter, aber keine institutionalisierten Stellvertretungen gegeben habe – vielmehr dominierten temporäre und ad hoc-Lösungen. Jochen Burgtorf (S. 211–244) und Enno Bünz (S. 245–271) richten den Blick auf Praktiken kirchlicher Stellvertretung: Während Burgtorf die zentrale Bedeutung von Stellvertretungsmechanismen in geistlichen Orden herausarbeitet, zeigt Bünz, dass die verbreitete Praxis der Pfarrstellvertretung nicht zwangsläufig zu einer Vernachlässigung der Seelsorge führte. Für das byzantinische Reich fragt Michael Grünbart (S. 273–303) nach den Möglichkeiten der Beeinflussung und Übernahme weltlicher Macht durch das geistliche Oberhaupt, den Patriarchen, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Stellvertretung „eigentlich nicht vorgesehen“ war (S. 302) und die patriarchale Macht nur in Krisenzeiten und temporär weiter ausgreifen konnte. Dorothea Weltecke (S. 305–330) betont, dass dezentrale Strukturen der orthodoxen und altorientalischen Kirchen unter islamischer Herrschaft Stellvertretungspraktiken vor allem unter pragmatischen Gesichtspunkten zur Bewältigung größerer Räume erforderten, und kann Belege für unterschiedliche Ämter aufzeigen, die mit Entsendung, Repräsentanz und Bevollmächtigung in Verbindung gebracht werden können. Für den Islam hebt Wolfram Drews (S. 331–375) die Bedeutung des Problems „der Nachfolge beziehungsweise Stellvertretung des Propheten“ als „grundlegend für … die Spaltung der islamischen umma in Sunniten und Schiiten“ hervor (S. 332). Für den schiitischen Islam erkennt er nach dem Verschwinden des 12. Imam einen Wandel von der individuellen zur kollektiven Stellvertretung durch die Gemeinschaft religiöser Gelehrter. Thomas Ertl (S. 377–413) zeigt, dass im Reich der Mongolen mit dem Großkhan als Stellvertreter Gottes auf Erden ein ideologisches Konzept der Herrscherlegitimation existierte; zugleich wurde Stellvertretung im administrativen Bereich durch die Delegierung von Herrschaftsrechten nach Bedarf praktiziert – insgesamt unterstreicht E. die pragmatische Anpassungsfähigkeit der Mongolen an ihre jeweiligen Herausforderungen. Die außereuropäischen Beispiele beschließt Daniel F. Schley (S. 415–449) mit einer Untersuchung der Konzepte von Stellvertretung im ma. Japan, wo die Fujiwara als Ratgeber und Vormünder für den Tenno dienten und eigenständig agieren konnten. Abschließend fasst Karl Ubl (S. 451–466) die unterschiedlichen Perspektiven auf Konzepte, Personen und Zeichen ma. Stellvertretung konstruktiv zusammen, indem er die von Zey in der Einleitung kurz angerissene, von den Soziologen Wolfgang Sofski und Rainer Paris vorgeschlagene Definition von Stellvertretung als „triadische Figuration“ zwischen Delegiertem, Auftraggeber und Dritten für sein Fazit fruchtbar macht und mit weiteren soziologischen Ansätzen, insbesondere von Max Weber und Jürgen Habermas, in Verbindung setzt. Die Konzentration der Fallstudien auf den religiös-geistlichen Bereich habe sich als sinnvoll erwiesen, gerade auch im Hinblick auf die interkulturelle Ausrichtung der Tagung und des aus ihr hervorgegangenen Bandes. Allerdings zeigt sich, dass viele Beiträge jeweils nur einen spezifischen Aspekt der von Zey eingeführten zweidimensionalen Definition von Stellvertretung – als legitimierendes Prinzip sakraler Herrschaft oder als funktionales Herrschafts- und Rechtsinstrument – in den Vordergrund stellen. Diese Schwerpunktsetzungen spiegeln die Vielfalt der Herangehensweisen und die Komplexität des Phänomens wider, ohne dass dies als Defizit zu bewerten wäre. Gleichwohl erschwert die Heterogenität der Zugänge den interkulturellen Vergleich, so auch Ubl (S. 465). Sowohl in einer interdisziplinären und -kulturellen Erweiterung wie in einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive – dann aber innerhalb des christlich-lateinischen MA – eröffnet sich ihm zufolge weiteres Potential für vertiefende Forschungen, die an die präsentierten erkenntnisreichen Fallstudien und ihre konzeptionelle Rahmung anknüpfen können. Ein Personen- und Ortsregister erschließt den für zentrale Fragen der Mediävistik ertragreichen und anregenden Sammelband.
Linda Dohmen