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Henry Ansgar Kelly, Criminal-Inquisitorial Trials in English Church Courts. From the Middle Ages to the Reformation (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law) Washington, D.C. 2023, The Catholic Univ. of America Press, X u. 471 S., ISBN 978-0-8132-3737-4, USD 75. – K. (Jg. 1934) hat in seinen zahlreichen Publikationen ein breites interdisziplinäres Feld im Kreuzungspunkt von Literatur, Geschichte, Theologie und Recht bearbeitet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört nicht zuletzt die Geschichte der ma. Inquisition. Diesem Thema ist auch das vorliegende Buch gewidmet, freilich in einem sehr spezifischen Sinn: Es geht um jene neue Form der Prozessführung (inquisitio), die im Unterschied zum alten Verfahren der accusatio, das im Kern auf der Unterstützung der Prozessparteien durch Eideshelfer beruhte, ex officio geführt wurde und auf den Nachweis der tatsächlichen Wahrheit zielte. Zum Durchbruch gebracht wurde es Anfang des 13. Jh. vom Juristenpapst Innocenz III. mit seiner Dekretale Qualiter et quando, die 1215 vom 4. Laterankonzil allgemein für die gesamte christliche Welt verbindlich gemacht wurde (S. 7). Auch die kirchlichen Gerichte in England orientierten sich an dieser Maßgabe des kanonischen Rechts, unbeschadet der Tatsache, dass zu keinem Zeitpunkt permanente päpstliche Sondergesandte für die Verfolgung ketzerischer Umtriebe (inquisitores heretice pravitatis) auf der Insel wirkten, wie es auf dem Kontinent vielfach der Fall war (S. 69). Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht Angehörige der päpstlichen curia im Zusammenwirken mit englischen Prälaten eine bedeutende Rolle bei Strafverfahren spielen konnten wie z.B. bei den englischen Templerprozessen (S. 68). In einem ersten Kapitel schildert K. die Etablierung des Inquisitionsverfahrens, das ursprünglich zur angemessenen Bestrafung unwürdiger Kleriker erfunden, dann aber schnell zur Häresieverfolgung eingesetzt wurde. Zunächst erstreckte es sich auf notorische Verbrechen, also auf solche, die durch publica fama zur Kenntnis des Richters gelangten. Schnell aber wurde es auch auf verborgene Vergehen ausgedehnt. Diese gelangten durch Denunziation zur Kenntnis des Richters, ohne dass die Denunziatoren das mit einer förmlichen Anklage verbundene Risiko tragen mussten, dem Talionsprinzip zum Opfer zu fallen. Unbeschadet dessen betont der Vf. die Bedeutung einiger Grundprinzipien für die Rechtmäßigkeit eines kanonischen Prozesses, namentlich die Trennung zwischen Vorermittlungen und förmlicher Anklage, bei der dem Angeklagten die gegen ihn vorliegenden Beweise präsentiert und ihm das Recht auf Verteidigung eingeräumt werden musste. Während der Vorermittlungen sei überdies die Anwendung der Folter verboten gewesen, während ein förmlich Angeklagter seit jeher unter bestimmten Kautelen der Tortur unterworfen werden durfte – in diesem Punkt wendet sich K. gegen das sei H.C. Lea gängige Bild, die Kirche habe die Folter ursprünglich verboten und diese erst mit der Bulle Ad extirpanda von Papst Innocenz IV. 1252 legitimiert (S. 78–84, vgl. auch seinen Aufsatz in The Catholic Historical Review 101/4, 2015). Auf die im einleitenden Kapitel skizzierten Grundzüge des Inquisitionsprozesses wird sich der Vf. im Folgenden immer wieder beziehen, um seine Ausgangsthese zu entwickeln, nämlich, dass „major abuses … by heresy-hunters on the Continent“ (S. 30) in England weitgehend vermieden worden seien. Diese These versucht K. in den folgenden 13 Kapiteln in akribischen und reichhaltigen Detailanalysen zur Prozessführung englischer Kirchengerichte vom Spät-MA bis in die Tudorzeit zu belegen, ein imposantes Panorama von Fällen, dem eine kurze Besprechung unmöglich gerecht werden kann. Es reicht von den Anklagen gegen die englischen Templer und den Zaubereiprozessen rund um Dame Alice Kyteler in Irland im frühen 13. Jh. über die Verfahren gegen John Wyclif, die Lollarden und andere spätma. Dissenter bis hin zu den Religionsprozessen des 16. Jh., etwa gegen Bischof Thomas Cranmer. Selbst unter Elisabeth I. sei an den Grundzügen des kanonischen Prozessrechts festgehalten worden (S. 416). Das imposante Kompendium wird vor allem für die Spezialisten des kanonischen Rechts in Zukunft ein wichtiger Referenzpunkt sein. Den Historiker beschleicht jenseits seiner hohen Anerkennung für den Fleiß und den Scharfsinn des Vf. indes ein leichtes Unbehagen angesichts seiner unerschütterlichen Beurteilungsmaßstäbe. Während auf dem Kontinent das Recht gebeugt wurde, war die Insel eher eine Bastion der Rechtsstaatlichkeit. Oder in K.s eigenen Worten: „In Rome, the rule of law had given way to expediency. In England, the rule of law still ruled – at least in theory“ (S. 412). Jenseits dieser binären Sichtweise des Vf. könnte man die Studie auch etwas anders lesen, nämlich als Beleg für die Flexibilität und Adaptionsfähigkeit des kanonischen Rechts in unterschiedlichen raumzeitlichen Kontexten.

Gerd Schwerhoff