Pier della Vigna, Epistole in 5 libri. Edizione critica della più antica raccolta sistematica, a cura di Debora Riso, introduzione di Fulvio Delle Donne (Quaderni di Leukanikà 24) Potenza 2024, Premio Letterario Basilicata, 554 S., ISBN 978-88-98943-78-4. – Bei der vorliegenden Edition von Schriftstücken aus der nach dem kaiserlichen Protonotar und Kanzler Petrus de Vinea († 1249) benannten Briefsammlung handelt es sich um eine Diss., die R. 2023 bei D. D. vorgelegt hat. D. D. selbst zeichnet für das Vorwort verantwortlich, das sich allerdings aus zwei bereits früher veröffentlichten Beiträgen zusammensetzt (dem Vorwort zu dem von D. D. bearbeiteten 1. Buch des Epistolario, 2014, vgl. DA 72, 262f., und D. D. / R., Origini e riorganizzazioni della raccolta epistolare di Pier della Vigna, vgl. DA 80, 723f.). Neue Erkenntnisse sind diesem Vorwort nicht zu entnehmen, wohl aber wurde neuere Literatur in die Fußnoten aufgenommen. Der Edition selbst ist eine etwa 150 Seiten lange Einleitung vorangestellt, in der sich R. zunächst dem Leben und Tod des Petrus de Vinea widmet (S. 57–76). Es handelt sich dabei – mangels neuer Quellen – um eine Zusammenstellung altbekannter Daten; gleiches gilt großteils für die folgenden Kapitel, welche Anmerkungen zur Überlieferung und Verbreitung, zur vermuteten Entstehung der Briefsammlung in der päpstlichen Kanzlei sowie zu den Drucken bzw. Editionen und einigen wissenschaftlichen Untersuchungen seit 1529 enthalten und sich teils mit dem Vorwort von D. D. überschneiden (S. 77–88). Ausgehend von der Einteilung der über 250 Überlieferungsträger von Materialien aus der Petrus de Vinea-Sammlung bei H. M. Schaller, MGH Hilfsmittel 18 S. 457f., stellt R. im Anschluss die Hss. vor, welche die Grundlage für ihre Edition und die damit verbundenen textkritischen Untersuchungen bilden: Es handelt sich um die drei von Schaller unter dem Begriff „kleine 5-teilige Sammlung“ (kl-5 / 5p) zusammengestellten Hss. aus Toledo, dem Vatikan und Wolfenbüttel (Schaller Nr. 204, 40, 236), welche jeweils in fünf Büchern geordnet Schriftstücke der Briefsammlung enthalten. Diese kleine Sammlung beinhaltet wesentlich weniger Schreiben als die „große 5-teilige Sammlung“ (gr-5 / 5M, 7 Hss.), die „große 6-teilige Sammlung“ (gr-6 / 6M, 12 Hss.) oder die den bisherigen Drucken zugrunde liegende und am meisten verbreitete „kleine 6-teilige Sammlung“ (kl-6 / 6p, knapp 90 Hss.). Nach derzeitigem Forschungsstand handelt es sich bei der kl-5 um eine der älteren, wenn nicht die älteste systematische Zusammenstellung von Schriftstücken aus der Petrus de Vinea-Überlieferung, wie auch der Untertitel von R.s Edition anklingen lässt. Zu diesen drei Hss. stellt R. zwei weitere Hss. (aus Brüssel [Schaller Nr. 28] und Namur [Schaller Nr. 138]) sowie ein Fragment aus Rom (Schaller Nr. 190), die von Schaller S. 458 unter der Rubrik kleine 5-teilige Sammlung mit 6. Buch Constitutiones zusammengefasst wurden. Zunächst (S. 100–102) untersucht R., in welcher Beziehung die einzelnen Hss. zueinander stehen, wobei sie die Hs. aus Namur als direkte Abschrift der Hs. aus Brüssel aussondern kann. Anhand von Textanalyse kommt R. zu dem Ergebnis, dass die Hs. aus Toledo, welche in der Edition als maßgebliche Hs. fungiert, von den anderen Hss. zu unterscheiden ist, diese Hss. also auf unterschiedliche Überlieferungszweige zurückzuführen sind. Ob man, wie sie S. 102 fordert, wirklich die von Schaller vorgenommene Einteilung von kl-5 neu diskutieren muss, sei an dieser Stelle offengelassen. Letztlich orientiert sich auch die Hg. weiterhin an dieser Klassifizierung und baut ihre weitergehenden Untersuchungen darauf auf. Anhand von textkritischen Methoden wie der Gegenüberstellung von Trenn- und Bindefehlern in den einzelnen Hss. erschließt R. verschiedene Subarchetypen, die sich von einem Archetyp α – im Gegensatz zu einem Archetyp β, von dem ihr zufolge die kl-6 abstammt – ableiten lassen (S. 102–215). Ihre Ergebnisse, nach denen die Hs. aus Toledo direkt von α abstammt, die anderen genannten Hss. von einem Subarchetyp γ (unterteilt in γ1 und γ2, S. 112–189), stellt die Hg. am Ende der Einleitung in einem Stemma zusammen (S. 220). Die Klassifikation der Hs. aus Toledo als „älteste systematische Zusammenstellung“ versucht sie anhand eines Vergleichs mit Briefen, die auch in der Briefsammlung des Nicola da Rocca überliefert sind (ed. F. Delle Donne, vgl. DA 60, 655f.), zu untermauern. Generell sind ihre Überlegungen zu den unterschiedlichen Überlieferungszweigen nicht zu beanstanden, man muss allerdings beachten, dass R. nicht versucht, den originalen, wohl in der kaiserlichen Kanzlei expedierten Text zu erschließen oder diesen mit den Schriftstücken abzugleichen. Vielmehr setzen ihre Überlegungen zu einem Zeitpunkt ein, an dem die ursprünglichen Texte – wohl vor dem Hintergrund der ars dictaminis – schon mehr oder weniger starke Variationen erlebt haben. Gerade bei Stücken, die aus völlig anderen Überlieferungszweigen ebenfalls auf uns gekommen sind, wäre ein solcher Abgleich durchaus erkenntnisreich und interessant gewesen (z. B.: Reg. Imp. V,1,1, 2431, das im Original vorliegt, hier S. 377–394 Nr. II,21 [Petrus de Vinea I,21]; Reg. Imp. V,1,1, 3206, das in einer fast zeitgenössischen Abschrift bei Albert Behaim überliefert ist, hier S. 337–342 Nr. II,8 [Petrus de Vinea I,8]; Reg. Imp. V,1,1, 3551, überliefert in der Chronik des Matthew Paris und im Red Book of the Exchequer, beide etwa Mitte des 13. Jh., hier S. 235–242 Nr. I,3 [Petrus de Vinea II,10] und weitere Schriftstücke). Die Edition selbst ist ordentlich gestaltet, wenn auch die Transkriptionen nicht fehlerfrei sind (z. B. Nr. III, 24 [S. 454 Abschnitt 11] transkribiert R. Nec profecto statt Hec profecto, was alle anderen Hss., welche die Hg. in ihre Edition einarbeitet, in etwa dieser Form [Ad hec profecto] bieten). Auch an weiteren Stellen finden sich Anzeichen, dass R. noch manche Schwierigkeiten im paläographischen Bereich hat: So ist ihre Annahme, die Abkürzung für dominum (dnm) wäre mit nos leicht zu verwechseln, doch etwas aus der Luft gegriffen (S. 192). Etwas verwirrend ist die Gestaltung der beiden Anmerkungsapparate: so erklärt R. zwar auf S. 224 deren Anlage, scheint dann aber in der Edition die beiden Apparate zu mischen. Anmerkungen, die sich auf die Texte und Varianten beziehen, gibt sie ohne erkennbares Muster mal in einem Fußnotenapparat, mal als Endnote (bezogen auf den jeweiligen Abschnitt in den einzelnen Schreiben) an. Zusätzlich blendet sie Varianten, die sie für ihre Argumentation bezüglich der Archetypen und Subarchetypen bereits in der Einleitung aufgeführt hat, aus der Edition aus. Als Grundlage für ihren Text wählte R. die Hs. aus Toledo, die sie neben den anderen Hss. der kl-5 auch mit weiteren Codices kollationierte, zusätzlich bietet sie als Vertreter für die kl-6 Varianten aus dem Epistolario (ed. 2014), ohne die (teils fehlerhaften) Lesarten zu überprüfen, vgl. dazu schon die Rezension von M. Thumser in: MIÖG 124 (2016) S. 443–447. Der Mehrwert der Arbeit, in der man an vielen Stellen die Hypothesen von R.s Doktorvater erkennen kann (so auch R. selbst S. 215 Anm. 100), liegt v. a. in den sehr genauen Analysen zum Text der einzelnen Hss., ihren Abhängigkeiten und Varianten. Wünschenswert wäre eine weitere Beschäftigung mit frühen Textzeugen (z. B. eine oftmals fehlerhafte Hs. aus Cologny-Genève [2. Hälfte 13. Jh.], die allerdings auf den ersten Blick zahlreiche Übereinstimmungen mit der Hs. aus Toledo aufweist) oder Textzeugen aus völlig anderen Überlieferungszusammenhängen (Chroniken, Originale, Abschriften), anhand derer die Abhängigkeiten des Petrus de Vinea-Materials noch näher untersucht werden könnten.
K. G.