La lettre dans son environnement, IVe–XIe siècle, éd. par Thomas Deswarte / Klaus Herbers / Nathanaël Nimmegeers (Epistola 4 – Collection de la Casa de Velázquez 197) Madrid 2024, Casa de Velázquez, XII u. 329 S., ISBN 978-84-9096-440-8, EUR 35. – Der Sammelband schließt die seit 2014 aus dem deutsch-französischen Forschungsprojekt „Epistola“ hervorgegangene gleichnamige Reihe von Tagungsakten und beleuchtet Aspekte der textuellen, lebensweltlichen und praxeologischen Kontextualisierung von Briefen und Briefkommunikation in Spätantike und MA. In seiner methodisch reflektierten Einleitung hebt Thomas Deswarte (S. 1–10) die Unterscheidung zwischen „literarischen“ und „pragmatischen“ Briefen auf. Er plädiert für einen übergreifenden diskursanalytischen Zugriff, der Briefe sowohl in ihrer Stilistik als auch in ihrem inhaltlichen Aussagegehalt als Instrumente sozialer Kommunikation begreift und den Brief als „interface“ betrachtet, mit dem der Autor in Beziehung zu seiner Umwelt tritt. D. schlägt eine dreifache Perspektive vor, entsprechend gliedert sich der Band in drei große Abschnitte, die die Dialogizität von Briefkommunikation, die Einbettung von Briefen in (nicht nur) literarische Textgeflechte und schließlich die Funktion von Briefen bei der Konstituierung von sozialen Netzwerken beleuchten. Für die Betrachtung der Dialogizität von Briefen maßgeblich ist die Erkenntnis, dass Briefe nicht defizitäre Substitute für eine durch räumliche Distanz verhinderte unmittelbare Konversation der Korrespondenzpartner darstellen. Der Brief ist vielmehr ein eigenständiges Medium, das im Vergleich zum mündlichen Gespräch unter Anwesenden ganz eigene Möglichkeiten eröffnet, etwa für ein bewusstes „soziolinguistisches“ Spiel mit Stilebenen und Sprachregistern (Benoît Grévin, S. 17–31, am Beispiel gallischer und italischer Briefe des 6.–8. Jh). Briefe erforderten eigenständige Kommunikationsstrategien (Christiane Veyrard-Cosme, S. 33–53, am Beispiel der Briefe Einhards), die sich je nach Aussageabsicht in ein regelrechtes Typenregister brieflicher Formen ausdifferenzieren (Ludwig Vones, S. 75–89, am Beispiel päpstlicher „Mahnbriefe“ Gregors VII. an iberische Empfänger). Die Verschriftlichung von Kommunikation erlaubte zudem die Verdauerung von Diskursen, in deren Rahmen langfristig kontroverse Positionen artikuliert und Ansprüche verfochten werden konnten (Eugenio Riversi, S. 57–73, am Beispiel des Reformpapsttums). Die anschließende Sektion beleuchtet das „Fortleben“ von Briefen, nachdem sie ihre initiale Funktion als Mittel der Kommunikation zwischen Sender und adressiertem Empfänger bereits erfüllt hatten. Dieses „zweite Leben“ des Briefs ist von der ursprünglichen Kommunikationssituation unabhängig und erlaubte neue Formen der Nutzung des Texts. Briefe konnten etwa durch öffentliche Zugänglichmachung „publiziert“ (Isabel Velázquez, S. 97–113, am Beispiel epigraphisch erhaltener Privatbriefe des Früh-MA), oder aber – auch in überarbeiteter/verfälschter Form – als Authentifizierungsmittel in historiographische Darstellungen eingearbeitet werden (Bruno Dumézil, S. 115–128, am Beispiel Gregors von Tours; Amancio Isla, S. 129–144, am Beispiel der historischen Legitimationsstrategie des navarresischen Königtums im „Códice de Meya“). Der Beweiswert der Briefform wurde bisweilen so hoch eingeschätzt, dass entsprechende Dokumente ex post fingiert und in vorgeblichen Sammlungen zur Untermauerung eigener Ansprüche präsentiert wurden (Nathanaël Nimmegeers, S. 147–157, am Beispiel Ados von Vienne). Umgekehrt werden Textverluste erkennbar: Als methodisch ebenso herausfordernd wie die Identifikation von Brieffälschungen erweist sich die Rekonstruktion von verlorenen Korrespondenzschritten aus erhaltenen Briefen (Bruno Judic, S. 159–173, am Beispiel eines Deperditums von Papst Honorius I.). Der dritte Abschnitt fragt schließlich nach der Funktion von Briefen bei der Gestaltung von Sozialbeziehungen und als Instrumente textueller Vergesellschaftung. Beleuchtet werden hier beispielsweise der Brief als stilistisch genau am Status des Gegenübers ausgerichtetes Textgeschenk (Camille Bonnan-Garçon, S. 181–195, am Beispiel spätantiker Briefe), die Pflege einer in Form der caritas verchristlichten amicitia (Dominique Barbe, S. 197–216, am Beispiel von Augustin, Hieronymus und Paulinus von Nola) oder die identitätsstiftende Wirkung disktinkter Kommunikationsnetzwerke (Julian Führer, S. 237–249, am Beispiel insularer Briefschreiber auf dem Kontinent; Sébastien Fray, S. 238–272, am Beispiel der Briefe Gerberts von Aurillac an sein Heimatkloster). Insgesamt bietet der Band eine reichhaltige Sammlung epistolographischer Fallstudien. Die Einführung von D., einleitende Überlegungen zu den einzelnen Sektionen sowie eine abschließende Zusammenfassung von H. erhellen die durchdachte Konzeption; dass sich nicht jeder Aufsatz in gleicher Weise schlüssig in diesen Aufbau einfügt, ist bei einem derart breit angelegten Sammelband kaum verwunderlich und schmälert den Wert der Publikation nicht. Neben zahlreichen Erkenntnissen der Einzelbeiträge vermittelt der Band vor allem einen Eindruck vom Facettenreichtum spätantiker und frühma. Briefkultur und den vielfältigen Möglichkeiten ihrer Erforschung.
Matthias Maser