Wilfried Schöntag, Die Marchtaler Fälschungen. Das Prämonstratenserstift Marchtal im politischen Kräftespiel der Pfalzgrafen von Tübingen, der Bischöfe von Konstanz und der Habsburger (1171–1312) (Studien zur Germania Sacra N. F. 5) Berlin / Boston 2017, De Gruyter, IX u. 601 S., Abb., ISBN 978-3-11-046736-9, EUR 149,95. – Schon seit dem 19. Jh. waren die Fälschungen des oberschwäbischen Prämonstratenserstifts Marchtal Gegenstand der Forschung. Ihre Klärung war aber weder Gebhard Mehring (1864–1931) noch Hans Weirich (1909–1942) befriedigend gelungen, was seinen Grund auch in der komplizierten Überlieferungssituation hatte: Der Urkundenbestand befindet sich heute verteilt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, im Staatsarchiv Sigmaringen und im Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv Regensburg; erst 2005 erschien der Regestenband „Die Urkunden des Reichsstifts Obermarchtal“ von Hans-Martin Maurer und Alois Sailer (vgl. DA 64, 178), der trotz aller Mängel für die Analyse des Fälschungskomplexes sehr hilfreich ist. Dieser Aufgabe widmet sich der Vf., der bereits 2012 für die Germania Sacra eine Gesamtdarstellung der Stiftsgeschichte vorgelegt hat (vgl. DA 69, 827), in methodisch mustergültiger Weise. Mithilfe eines paläographischen Vergleichs kann Sch. rund 25 frei gefälschte Urkunden sowie 41 verfälschte und anschließend beglaubigte bzw. ausschließlich beglaubigte Urkunden aus dem Zeitraum zwischen 1171 und 1312 eruieren. Selbst vor Siegelfälschungen schreckten die Marchtaler Fratres nicht zurück, indem sie in Zusammenarbeit mit Konstanzer Bischöfen und dem Konstanzer Domkapitel auf Grundlage von Siegelabformungen durch Konstanzer Goldschmiede neue Typare für bischöfliche und domkapitularische Siegel schneiden ließen. Das Motiv der insbesondere zwischen 1298/99 und 1306 tätigen Marchtaler Fälscherwerkstatt war zunächst die Zurückdrängung adliger Vögte, namentlich der Grafen von Tübingen-Böblingen und der Grafen von Berg-Schelkingen, und damit die „Korrektur“ der Gründungsverhältnisse des Prämonstratenserstifts; Nutznießer und Mittäter waren dabei die Konstanzer Bischöfe und das dortige Domkapitel (S. 23–168). Ferner ging es um die Abwehr des habsburgischen Vordringens in Oberschwaben (S. 169–245) sowie die Durchsetzung der Inkorporation stiftischer Pfarrkirchen (S. 247–260). Im umfangreichen Anhang (S. 281–560) finden sich die sorgfältigen diplomatischen Detailuntersuchungen zu den acht Marchtaler Urkundenschreibern (S. 283–315), den Siegelfälschungen (S. 317–321), der Besiegelungspraxis der ge- und verfälschten Urkunden (S. 323–336), dem Missbrauch von Beglaubigungen (S. 337–340). Vor allem wird aber jede der insgesamt 83 behandelten Urkunden regestiert und einer ausführlichen Analyse unterzogen: In chronologischer Reihung werden dabei die äußeren und inneren Merkmale beschrieben und Auffälligkeiten – vielfach auch mittels qualitätvoller Detailabbildungen – hervorgehoben. Die 27 bisher nicht gedruckten Urkunden, unter denen sich drei Diplome Philipps von Schwaben und Albrechts I. sowie ein Privileg Papst Clemens’ V. befinden, werden zudem erstmals ediert: S. 360–363 Nr. 4 [Pfalzgraf Hugo II. von Tübingen, 1173 Mai 29], S. 387–397 Nr. 11 [König Philipp von Schwaben, 1207 September 9], S. 446–448 Nr. 30 [Bf. Berthold II. von Basel, 1253 Dezember], S. 465–467 Nr. 41 [Bf. Rudolf I. von Konstanz, 1280 März 15], S. 469–471 Nr. 43 [Bf. Rudolf I. von Konstanz, 1282 März 29], S. 472f. Nr. 45 [Bf. Johannes von Litauen, 1286], S. 474f. Nr. 46 [Bf. Rudolf I. von Konstanz, 1290 Januar 1], S. 475–480 Nr. 47 [Bf. Rudolf I. von Konstanz, 1290 Januar 26], S. 480–483 Nr. 49 [Walter von Emerkingen, 1292 September 7], S. 491f. Nr. 54 [Rudolf von Emerkingen, 1293 Januar 23], S. 492f. Nr. 55 [Elekt Heinrich II. von Konstanz, 1293 September 19], S. 495f. Nr. 57 [Elekt Heinrich II. von Konstanz, 1294 vor März 8], S. 496–498 Nr. 58 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1295 Oktober 26], S. 498–502 Nr. 59 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1295 November 3], S. 502–505 Nr. 60 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1295 Dezember 3], S. 505f. Nr. 61 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1296 April 17], S. 506f. Nr. 62 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1296 April 17], S. 508–510 Nr. 63 [Bf. Peter I. von Basel, 1296 April 19], S. 521f. Nr. 70 [Herzog Hermann von Teck, 1297 August 11], S. 534–539 Nr. 75 [König Albrecht I., 1302 Juli 28], S. 539–542 Nr. 76 [Hermann von Emerkingen, 1303 März 21], S. 544–550 Nr. 78 [König Albrecht I., 1304 April 15], S. 550f. Nr. 79 [Bf. Heinrich II. von Konstanz, 1308], S. 551–553 Nr. 80 [Bf. Gerhard IV. von Konstanz, 1309 Mai 30], S. 553f. Nr. 81 [Konrad Schiltung, Vogt der Herzöge von Österreich, 1311], S. 555–559 Nr. 82 [Papst Clemens V., 1312 April 10], S. 559f. Nr. 83 [Bf. Heinrich III. von Konstanz, 1357 September 10]. Ein Orts- und Personenregister (S. 583–601) erschließt den Band, in dem Sch. durch konsequente und virtuose Anwendung der Quellenkritik zu einer Fülle an Neubewertungen kommt, die nicht nur für das Prämonstratenserstift Marchtal langtradierte Forschungsmeinungen ad absurdum führen.
S. P.