Letters in the Dust. The Epigraphy and Archaeology of Medieval Jewish Cemeteries, ed. by Leonard V. Rutgers / Ortal-Paz Saar (Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 23) Leuven / Paris / Bristol 2023, Peeters, XI u. 345 S., Abb., ISBN 978-90-429-4703-0, EUR 116,60. – Der Sammelband ist das Ergebnis eines Workshops im Jahr 2016 und enthält Beiträge aus einem weiten geographischen Raum und einer Zeitstellung von der Antike bis zum Ende des MA. Er besteht aus zwei Teilen, „Epigraphy“ und „Archaeology“. In der Einleitung machen die Hg. auf die Wichtigkeit des Vergleichs zwischen antiken und ma. jüdischen Bestattungskulturen aufmerksam, anhand dessen sich Kontinuität und Veränderungen ablesen lassen. Dies betreffe vor allem die jüdischen Gemeinden in der Diaspora. Im ersten Teil zur Epigraphik beschäftigen sich viele Beiträge mit Methoden der qualitativen und quantitativen Auswertung jüdischer Grabsteininschriften aus Antike und MA (Antonio Enrico Felle, S. 9–33; Linda Safran, S. 35–63). Das Problem der Sprache als Indikator für jüdische Epitaphien wird angesprochen, ebenso das der jüdischen Symbole. Hebräisch ist zu großen Teilen nicht vorhanden und kehrt erst im MA wieder als festes Charakteristikum für jüdische Bestattungen zurück. Einige Grabsteine aber sind auch bilingual. Immer wieder sind Spolien ein Thema, da die Grabsteine von jüdischen Friedhöfen nach Pogromen und Vertreibungen in anderen Kontexten als Baumaterial wiederverwendet wurden (Nicolò Bucaria, S. 97–134; Arturo Ruiz Taboada, S. 223–247). Ortal-Paz Saar (S. 65–96) richtet den Blick auf die Texte von Inschriften, aus denen sie besondere Todesumstände („atypical demise“) – Morde, Unfälle etc. – lesen möchte. Dazu zählt, um ein Beispiel aus dem ma. Reichsgebiet zu ergänzen, auch der Regensburger Grabstein der Jüdin Dobraslava, Tochter Natanaels und Frau Benjamins, die im Jahr 1292 von „mächtigen Wassern“ fortgerissen wurde – wahrscheinlich als sie sich in die Donau zur rituellen Reinigung (Mikwe) begab (vgl. Michael Brocke, Der berühmte mittelalterliche jüdische Friedhof von Regensburg und seine Grabsteine, in: Bayerische Archäologie 1, 2016, S. 34–36, hier S. 36). Insgesamt überraschend ist, wie schlecht es um die schriftliche Dokumentation jüdischer Friedhöfe in Antike und MA in ganz Europa und dem Mediterraneum bestellt ist. Viele Aufsätze beschreiben unterschiedliche Grabsteinformen und Grabtypen (Philippe Blanchard, S. 249–294). Bestattungsarten sind mehrfach Thema: Kleidung, Särge, Grabbeigaben etc. Hinsichtlich der Särge sind sich nicht alle Forscher einig (Jane M. McComish, S. 201–222). Sie scheinen insgesamt eine Neuentwicklung des Spät-MA gewesen zu sein. Im Reichsgebiet war es im 15. Jh. offenbar nicht ungewöhnlich, Studierpulte der Verstorbenen aus der Synagoge in Särge umzuarbeiten (vgl. Moritz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des XIV. und XV. Jahrhunderts, 1888, S. 100). Ansonsten sind persönliche Grabbeigaben eher selten, kommen aber vor. In Trier wurde sogar ein – offenbar posthum zerstörtes – persönliches Siegeltypar gefunden (vgl. Andreas Lehnertz, Two Seals of Muskinus the Jew, vgl. DA 77, 299). Auch Gender spielt in den Beiträgen vielfach eine Rolle, etwa: Wurden Jüdinnen und Juden unterschiedlich beerdigt – und vielleicht sogar an klar getrennten Stellen des Friedhofs? Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein (Sonia Fellous, S. 135–197). Wertvoll ist immer wieder der lokale Vergleich mit christlichen und muslimischen Begräbnisformen. Die Onomastik ist ein starker Indikator für den Unterschied in den Grabinschriften von Jüdinnen und Juden. Insgesamt handelt es sich um einen exzellenten Überblick zur jüdischen Bestattungskultur in Antike und MA mit zahlreichen neuen Ergebnissen und vergleichenden Perspektiven. Es ist bedauerlich, dass kein Überblicksartikel für das ma. Reichsgebiet geboten wird. Hier ist die Literatur mittlerweile kaum noch zu überschauen. Zwei wichtige Titel, die nicht genannt werden, seien deshalb an dieser Stelle nachgereicht: Als Beispiel für eine synthetische Studie zu verschiedenen jüdischen Friedhöfen des ma. Reichs ist Susanne Härtel (vgl. DA 76, 385f.) heranzuziehen; für neueste Ergebnisse archäologischer und naturwissenschaftlicher Analysen (darunter auch DNA) vgl. Karin Sczech, der mittelalterliche jüdische Friedhof in Erfurt, in: Fasciculi archaeologiae historicae 36 (2023) S. 161–168. Nicht zuletzt bietet der Band auch zahlreiche übersetzte Inschriftenbeispiele sowie exzellentes Bildmaterial. Er ist sowohl dafür geeignet, sich einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu verschaffen, als auch, um vertieft neue Ergebnisse zu studieren. Größtenteils hat zu gelten, was L. Safran konstatiert, nämlich „it is impossible to generalize broadly about medieval Jewish death. It is more responsible to talk about regional and local practices“ (S. 63). Gleichwohl werden auch wichtige Indikatoren benannt, an denen jüdische Bestattungen zu erkennen sind, etwa die Grabform des lucillo.
Andreas Lehnertz