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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,2 (2025) *.

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Tobias Pietsch, Vom Ritterhof zum Gut. Die niederadligen Eigenwirtschaften Mecklenburgs im spätmittelalterlichen Wandel (Goldberger Studien zur mecklenburgischen Geschichte) Goldberg 2023, Verlag Natur-Museum Goldberg / Fred Ruchhöft, 364 S., Abb., ISBN 978-3-9825911-0-0, EUR 38. – P. hat eine ebenso umfassende wie beeindruckende Dokumentation der differenten wirtschaftlichen Situation des mecklenburgischen Niederadels während des 14. und 15. Jh. vorgelegt. Die Quellengrundlage bilden neben dem Mecklenburgischen Urkundenbuch (bis 1400) die Regestenkartei des Schweriner Staatsarchivs, die mit ungefähr 25.000 Karteikarten die Bestände für das 15. Jh. erschließt, sowie die Überlieferung der einschlägigen städtischen und kirchlichen Archive Lübecks, Rostocks, Stralsunds und Wismars. Die Fragestellung richtet sich auf die Beschreibung der Wirtschaftskonjunkturen des 14. und 15. Jh. und deren Auswirkungen auf die Rittergüter, die in 809 mecklenburgischen Orten nachgewiesen werden können. Zugleich ist es das Ziel, frühe Entwicklungen der im Vergleich zu Holstein spät, erst im 16. Jh., massiv einsetzenden mecklenburgischen Gutswirtschaft zu beobachten. Das Quellenmaterial dafür liegt in den nach Hunderten zählenden niederadligen Pfandverschreibungen vor, welche für die Region vorliegen, allerdings ungleich verteilt mit einer Art Nord-Süd-Gefälle. Die Bedingungen im Norden Mecklenburgs, vor allem die Usancen der Marktintegration der Rittergüter im nordwestlichen Landesteil, treten dadurch viel stärker zutage als im Süden. P. gliedert seine Analyse in fünf Kapitel: 1) die quantitative Untersuchung der Pfandverschreibungen, die sich auf vier Wellen während der 1310/20er, 1380/90er, 1430/40er und 1460/90er Jahre verteilen, 2) die Beschreibung der Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung der Ritterhöfe mit ihrem massenhaften Rückgang vor allem im 15. Jh., 3) die Beobachtung der Strukturveränderungen auf den Ritterhöfen etwa mit der Extensivierung der Eigenwirtschaft durch die Diversifizierung des Getreidebaus mit Viehwirtschaft auf ungenutzten und/oder wüst gefallenen Ackerflächen, sowie der Entwicklung früher Gutswirtschaften, 4) die Erörterung der Veränderungen der durch den Niederadel genutzten Kreditmöglichkeiten vom 14. Jh. mit internalisierter Darlehensvergabe zum 15. Jh., in dem sich der Kredit externalisierte, auf den städtischen Martini-Kreditmärkten und auf dem mecklenburgischen Umschlag gesucht werden musste, und schließlich 5) die Betrachtung der sozialgeschichtlichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Konjunkturen mit dem Blick auf bäuerlichen Widerstand (vornehmlich im Hinblick auf die von Überschuldung und Pressionen durch den Grundherrn bedingte Landflucht) und auf adliges Fehdewesen, auf die im 15. Jh. wie andernorts erheblich nachlassende bis ausfallende niederadlige Stiftungstätigkeit, überhaupt auf die Verschiebungen der Sozialstruktur des Niederadels zugunsten weniger führender Niederadelsgeschlechter. Eine pointiert die Ergebnisse herausstellende Zusammenfassung, ein quellenkritischer sowie ein genealogischer Anhang mit Personenverzeichnissen der führenden Niederadelsgeschlechter, welche die im Text vielfach eingestreuten Stammtafeln ergänzen, endlich ein tabellarischer Anhang (Hofhufenzahl der Ritterhöfe, die Rittersitze, die Verpfändungen von Einkünften aus den Rittersitzen sowie die Fehdeteilnehmer unter den Adligen) runden ein für die Geschichte des Niederadels im Reich beachtenswertes Werk ab. Dennoch laden die Ausführungen über die Auswirkungen der von 1350 bis in die 1470er Jahre anhaltenden sozioökonomischen Depressionsphase Europas im Zusammenhang der sogenannten Agrardepression auch zu Kritik ein: P. gelingt es zwar überzeugend, anhand der Unzahl der Pfandverschreibungen der ungefähr 550 zeitgleich vorhandenen Rittergüter die vier genannten Wellen zu verifizieren. Sie entfalteten sich entweder analog zu den europäischen Ernte- und Hungerkrisen jeweils zu Beginn des 14. und 15. Jh. oder waren nach Ansicht von P. Folge- und Begleiterscheinungen von fehlgeschlagenen Finanzspekulationen (z.B. Lüneburger Saline), wobei er die Folgen der zweiten Pestpandemie und zahlreicher anderer Seuchen für die Landbevölkerung Mecklenburgs weitgehend negiert. Kein Wort zu der ungeheuren demographischen Katastrophe – rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung –, die durch die Pandemie und die zunächst im Schnitt alle sieben Jahre (bis 1400), danach in größeren, 15–20 Jahre währenden, Sequenzen wiederkehrenden Seuchenzüge, gleich ob sie durch Pest oder andere Infektionskrankheiten wie insbesondere Paratyphus C verursacht wurden, wenig – mit Ausnahme der Beobachtung einer langandauernden Zunahme niederadliger Kreditaufnahmen seit den 1410er Jahren – auch zu der dadurch ausgelösten tiefgreifenden wirtschaftlichen Depressionsphase, die bis in die 1470er Jahre hinein anhielt. Wie sonst könnten die von P. festgestellte massenhafte Aufgabe von zwei Dritteln aller Rittergüter, die Halbierung der Zahl der zum Niederadel zählenden Personen, die hochinteressante erhebliche Verkleinerung der Marktzonen Lübecks, Wismars und Rostocks im 15. Jh., die Wüstungen bis hin zur Aufgabe von Dörfern und die Landflucht sinnvoll erklärt werden? Wie sonst könnte das wirtschaftliche Handeln der nach dem Schock der Pandemie in einer demographischen Dauerkrise erstarrten Gesellschaften Europas während des späten 14. und über weite Strecken des 15. Jh. in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden? Der von P. detailliert beschriebene beschleunigte Grundbesitzwechsel zugunsten städtischer Bürger, Institutionen (Spitäler) und Klöster (zumindest im 14. Jh.), verursacht auch durch demographische Wandlungen und Brüche innerhalb der Niederadelsgeschlechter, gehört ebenso dazu wie die verstärkten Kreditaufnahmen nicht nur des Adels, überdies die gut beobachteten hybriden Prozesse zwischen Adel und Nichtadel im Wandel der bürgerlichen und adligen Sozialpraxis (der landrechtlich begründete Begriff „Stand“ der Frühneuzeit ist hier falsch), von den nicht beobachteten, weil außerhalb der Perspektive der Untersuchung liegenden Verwerfungen im Berg- und Hüttenwesen, im produzierenden Gewerbe und im Messe- und Handelsverkehr des Spät-MA gar nicht zu reden. Die mit dieser Fehleinschätzung von P. als grundlegendes Erklärungstheorem genommene, in der Forschung nicht nur von Hillay Zmora, sondern vielfach kritisierte Agrardepressions-These Wilhelm Abels ist schon deswegen problematisch, weil für Mecklenburg bisher allein und damit völlig unzureichend die Rostocker Roggenpreise untersucht worden sind (von Ursula Hauschild, vgl. DA 31, 637f.). Wie steht es um Lübeck, Wismar und Stralsund? Und wie steht es mit der postulierten und gut belegten mangelnden Integration der Rittergüter Mecklenburgs in die städtischen Märkte, die sich außer im Nordwesten auch im 15. Jh. nur geringfügig verbesserte? Das wird dort an der Umstellung der gewohnten Naturalwirtschaft (Kreditzins und bäuerliche Abgabe) auf Geldbasis deutlich. Auch dies wurde durch einschlägige Forschung auch andernorts beobachtet. Mag dieser wirtschaftliche Verhaltenswandel schon widerläufig zur Agrardepressions-These erscheinen, dann scheint der sozioökonomische Wandel innerhalb des mecklenburgischen Niederadels umso verblüffender. Denn die höhere Marktintegration wirkte in den nördlichen Zonen Mecklenburgs als sozialer Selektionsmechanismus: Es blieben nur die über große Güter und entsprechendes Resilienzpotential in ihrem Eigenbetrieb, aber auch in ihren Grundherrschaften gegenüber den bäuerlichen Pächtern verfügenden schon für das 14. Jh. von P. als führend beschriebenen Geschlechter der Bassewitzen, Buchwalds, Flotows, Maltzans, Moltkes, und wie sie alle hießen, übrig. Dieser sich trotz der gegenläufigen wirtschaftlichen Depressionserscheinungen über die städtischen Märkte steuernde Wandlungsprozess schuf die Voraussetzungen für die Gutsherrschaft. Dies ist eine wichtige und entscheidende Erkenntnis des ergebnisreichen Buchs, das gerade ohne die von P. selbst „als eher diffus“ (S. 261) bezeichnete und gleichsam als deus ex machina genommene „Agrardepression“ bestens aus seinen empirischen Befunden zu jener komplexen Metamorphose wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse im spätma. Niederadel Mecklenburgs hätte gewonnen werden können.

Gerhard Fouquet