Sarah Hutterer, Die ‘Konstanzer Weltchronik’. Modulare Textpraxis in der spätmittelalterlichen Schriftlichkeit. Edition und Untersuchungen (Zs. für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 45) Stuttgart 2024, Hirzel, XCVI u. 366 S., Abb., ISBN 978-3-7776-3405-0, EUR 84. – Der Band zur sogenannten Konstanzer Weltchronik, einer anonym überlieferten deutschen Universalchronik, in der Ereignisse von der Schöpfung der Welt bis ins Jahr 1389 thematisiert werden, geht auf eine 2022 in Wien verteidigte altgermanistische Diss. zurück. Besagte Chronik lag bislang bloß in einer unzulänglichen Teil-Edition von Theodor von Kern aus dem Jahr 1869 vor, wobei der sich auf die einzige damals bekannte Hs. stützende Ersteditor insofern wichtige Vorarbeiten geleistet hat, als er die lateinischen Quellen des deutschen Anonymus identifizierte und auszugsweise mit abdruckte. Was ihren eigenen Ansatz betrifft, so präzisiert die Vf. in der Einleitung, dass es sich um „keine geschichtswissenschaftliche, sondern eine philologische Untersuchung“ handelt (S. XV). Das in insgesamt neun – zwischen 1426 und dem frühen 16. Jh. entstandenen – Hss. überlieferte Geschichtswerk wird als ein „texte vivant“ aufgefasst, der in mehreren Textzuständen vorliegt. Das sich aus diesem Ansatz ergebende Problem multipler Textfassungen löst die Vf. dadurch, dass sie zum einen eine kritische, sämtliche Textzeugen berücksichtigende Edition (mit moderner deutscher Übersetzung) auf der Grundlage der Hs. Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1253, erstellt. Darauf folgt zum anderen eine weitere, auf drei Hss. beruhende alternative Fassung sowie als Drittes eine Version, die sich nur auf eine Hs. stützt. Eine weitere Besonderheit betrifft die Gestaltung der Apparate: Der Textapparat der kritischen Edition wird durch einen Textbestands-Apparat ergänzt, der Abweichungen verzeichnet, „die über Varianz im klassischen Sinne hinausgehen“, z. B. Zusätze, Auslassungen oder abweichende Formulierungen (S. XCII), welche in einer „klassischen“ Edition im Textapparat zu finden wären. Was hier hingegen fehlt, ist ein Sachapparat, so dass die Chronik historisch nicht erschlossen wird, was die Nutzerfreundlichkeit bei einer historisch ausgerichteten Nutzung, wie sie für einen chronikalischen Text vorausgesetzt werden kann, stark einschränkt. Der Untersuchungsteil widmet sich zuerst den in den einzelnen Hss. voneinander abweichenden Bebilderungen, insbesondere den variierenden Relationen von Text und Bild, wobei den Bildern eine strukturierende Funktion zugeschrieben werden kann. Ein weiteres Kapitel ist den bereits von Kern ermittelten lateinischen Quellen der Konstanzer Chronik zugedacht (Martins von Troppau Chronicon, die Flores temporum, Gottfrieds von Viterbo Pantheon sowie Tholomeus’ von Lucca Historia ecclesiastica nova samt der Fortsetzung von Heinrich von Diessenhofen), wobei die Vf. darauf verzichtet hat, die Quellennachweise in die Edition aufzunehmen. In der Untersuchung geht sie der Verwendung der lateinischen Vorlagen durch den anonymen Chronisten nach, so seiner Übersetzungsarbeit oder seinen Auswahl- und Kürzungsprinzipien. Dabei tritt das Bestreben des Anonymus hervor, seinem Publikum einen verständlichen Text vorzulegen. Ein weiteres Thema ist die Struktur der Chronik, die von einem doppelten Zeitverständnis geprägt ist: einerseits eine lineare Zeit, andererseits eine zyklische, die immer wieder auf den 25. März rekurriert, auf den die unterschiedlichsten, zeitlich auseinander liegenden Geschehnisse datiert werden, so dass die Vf. von einer „zyklischen Verdichtung auf dem 25. März“ (S. 251) spricht. Das letzte große Thema ist die Form der Konstanzer Chronik, die als modularer Text verstanden wird, bei dem grundsätzlich das „Chronikmodul“ von einem „eschatologischen Modul“ unterschieden wird, das aus dem „Antichrist-Bildertext“ sowie den „Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts“ besteht. Das „eschatologische Modul“ ist nicht immer zusammen mit dem „Chronikmodul“ überliefert, d. h. die Chronik erstreckt sich je nach Überlieferungsstrang von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Tag oder aber „nur“ bis in die zweite Hälfte des 14. Jh. Was die Rezeption der Chronik betrifft, so wird vor allem deren Verwendung durch den Konstanzer Geschichtsschreiber Gebhard Dacher († 1471) beleuchtet. Die Arbeit bietet eine sicherere Textgrundlage für die künftige Auseinandersetzung mit der Konstanzer Weltchronik und zahlreiche Einsichten in deren Struktur und Eigenheiten. Die historische Einordnung der Chronik wird noch zu leisten sein. Der Band ist einzig durch ein Hss.-Register erschlossen.
Georg Modestin