DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,2 (2025) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

Ständische Grenzüberschreitungen, hg. von Christian Hesse, Redaktion Sara Steffen / Corina Liebi (VuF 92) Ostfildern 2021, Jan Thorbecke Verlag, 310 S., Abb., ISBN 978-3-7995-6892-0, EUR 40. – Der Sammelband geht zurück auf die durch den Hg. konzipierte Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises von 2016. H. zielt beim Thema des Standeswechsels auf „das Überschreiten von … rechtlich und/oder symbolisch definierten oder performativ gesetzten Grenzen“. In Frage steht dabei die zeitgenössische „Selbstkonzeption“ ebenso wie die „Selbst- sowie Fremdwahrnehmung“ der Beteiligten (Einleitung, S. 9–22, hier S. 10f.). Damit wird zu Recht davon ausgegangen, dass Standeswechsel sich immer im Kontext von Normen vollziehen, zu denen sich Akteure in einer bestimmten Weise verhalten. Konkrete Fallbeispiele sollen, so das Ziel, die besonders seit Otto Gerhard Oexle regelmäßig zitierten und bekannten theoretischen Traktate des MA über ständische Gliederungen von Adalbero von Laon bis zu Felix Fabri auf ihren Realitätsgehalt hin hinterfragen. Acht Aufsätze verteilen sich auf die Bereiche Politik, Kirche, Stadt und Universität. Allein Martina Stercken (S. 23–46) vertritt den ersten Abschnitt, was angesichts von dessen Bedeutung etwas überrascht und offenbar mit der unvollständigen Zurverfügungstellung von Tagungsaufsätzen zusammenhängt. St. vergleicht – etwas gegen den Strich des Themas gebürstet – zwei zeitlich weit auseinanderliegende Friedenseinungen im habsburgischen Herrschaftsraum westlich des Arlbergs von 1333 und 1410 im Hinblick nicht auf ständische Grenzüberschreitungen, sondern auf ihre Bedeutung für die Verfestigung von ständischen Grenzen. Eine zunehmende Abgrenzung einzelständischer Identität geht hier einher mit einer ständeübergreifenden Wahrnehmung gemeinsamer politischer Interessen. Drei Aufsätze sind dem kirchlichen Bereich gewidmet. Karl-Heinz Spiess (S. 47–74) wendet sich einem besonders prägnanten Thema der Grenzüberschreitung zu – dem Hin und Her von Fürsten-, Grafen- und Freiherrensöhnen des Reichs zwischen dem Stand der Weltgeistlichen und dem Laienstand. Motive, betroffene kirchliche Institutionen und die Rolle des Papsttums kommen dabei in den Blick, und im Ergebnis überrascht es angesichts der Motive der adligen Akteure bzw. Dynastien in diesem Feld nicht, wenn S. anstatt klarer Grenzlinien zwischen Klerus- und Laienstand vor allem „ständische Mischzonen“ (S. 73) ausmacht. Ähnlich auch Kerstin Hitzbleck (S. 75–108), die anhand kirchenrechtlicher Verfahren und der dabei geäußerten Vorwürfe gegen geistliche Würdenträger beobachtet, dass die Bruchlinie nicht zwischen Kirche und Welt, „sondern eher zwischen der Kirche in der Welt und der Kirche in ihrer ideellen und normativen, mithin theoretischen Konzeption“, verlief (S. 83); „die Entscheidung für die geistliche Laufbahn und den klerikalen Stand überschrieb den Geburtsstand offenbar nicht“ (S. 107). Per se jenseits der Grenzen zwischen Mönchtum und Welt lebten die Brüder und Schwestern vom Gemeinsamen Leben der Devotio Moderna, die Andreas Rüther (S. 109–140) untersucht. Tatsächlich überliefern die Quellen eine Vielzahl funktional bestimmter Gruppenbildungen und Statuszuschreibungen, von Über- und Unterordnung innerhalb dieser Gemeinschaften, während diese das arbeitsteilig geschichtete städtisch-bürgerliche Umfeld der Devotio Moderna als religiöser Bewegung und deren Dynamik widerspiegelten. Drei Aufsätze sind dem städtischen Milieu gewidmet. Einen stark konzeptionell angelegten Aufsatz steuert Pierre Monnet (S. 141–170) zur „Sensibilität“ für eine ständische Grenzüberschreitung bei den Eliten der spätma. deutschen Städte bei. Unter „Grenzüberschreitung“ versteht M. offenbar die überall sichtbare städtische soziale Mobilität, die auch nach ganz oben, in die städtischen Eliten führen konnte und deren man sich um und nach 1500 bewusster wurde. Denn damals entwickelte sich, wie M. beobachtet, eine vorher so nicht vorhandene „sozio-kulturelle Geschlossenheit“ bzw. „Exklusivität dieser Oberschichten“ (S. 148) und zugleich damit eine „späte“ Sensibilität für die bisherige Mobilität. Nicht recht deutlich wird für den Rez., wo eigentlich angesichts einer allgemein hohen sozialen Dynamik in den Städten vor dieser späten Verfestigung um 1500 von „Grenzüberschreitungen“ gesprochen werden kann – handelt es sich etwa allein um das Phänomen einer rückblickenden Zuschreibung durch die Zeitgenossen? Doch dafür fehlen die Quellenzeugnisse, die allenfalls die späte Abschließung zurückprojizieren. Gerhard Fouquet (S. 171–197) stellt in einer thematisch benachbarten Studie städtische Bürger in den Mittelpunkt, die das Berufsbewusstsein des ma. Fernkaufmanns mit dem aristokratischen Habitus eines Stadtadels verbanden (S. 173), wobei besonders die Probleme „neuer“ Akteure in den Mittelpunkt gestellt werden, die jenseits des aus ihren Handelsgeschäften stammenden Reichtums entscheiden mussten, wie sie mit den Erwartungen an die Pflege eines adligen Habitus umgehen sollten. Weniger Grenzüberschreitungen sind es als individuelle Anpassungen, die F. dabei herausarbeitet. Marc von der Höh (S. 199–236), stellt gleich zu Beginn seines Beitrags infrage, ob der Begriff der ständischen Grenzüberschreitung im Sinn des Standesbegriffs der frühen Neuzeit für die Stadtgesellschaft und andere gesellschaftliche Bereiche des MA angemessen bzw. welche Art von Stand und ständischen Grenzziehungen hier anzutreffen sei. Im Folgenden unternimmt v. d. H. eine Mikrountersuchung der Kölner Führungsschicht. Anhand dieses Beispiels weist er zwar darauf hin, dass der Einsatz von Habitus und Distinktionsmerkmalen zunächst noch keine ständische Abgrenzung bedeuten muss, kann jedoch herausarbeiten, dass sich „die Ausbildung symbolisch markierter, vergleichsweise stabiler sozialer Grenzen“ (S. 233) seit dem späteren 14. Jh. in Köln verstärkte, ohne dass damit eine, wie oft behauptet, strikt abgegrenzte Führungsschicht von Geschlechtern in Köln entstanden wäre – dazu sollte es erst später kommen. Als ein besonders fruchtbares Feld für die Thematik des Bandes erweist sich schließlich die ma. Universität. An dieser war, wie kaum irgendwo sonst, nach allgemeiner Meinung „ein sozialer Statusgewinn durch individuelle Bewährung möglich“ (S. 237) – Ausgangspunkt von Robert Gramsch-Stehfest (S. 237–273) zu Beginn eines außerordentlich vielschichtigen und ergebnisreichen Aufsatzes über ständische Grenzüberschreitung und ständisches Miteinander in den Universitäten und – damit zeitgenössisch eng zusammenhängend – auch der Kirche. Die Perspektive liegt sowohl auf ständischer Grenzüberschreitung im Sinn von sozialem Aufstieg wie auch auf dem Verhältnis von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Herkunft zueinander in der universitären Vergemeinschaftung – und zwar sowohl auf der Ebene der überlieferten sozialen Daten wie auch auf derjenigen der Wahrnehmung, zeitlich differenzierend vom späten 14. bis zum frühen 16. Jh. Eine ebenso knappe wie luzide Zusammenfassung des Bandes hat Stephan Selzer (S. 275–297) beigesteuert. Ihm ist zuzustimmen, dass die Beiträge eine gewisse Inkonsistenz darin erkennen lassen, wonach im Umfeld des Stände-Begriffs und ständischer Grenzüberschreitungen gesucht werden sollte und worüber man glaubt, in diesem Kontext sinnvollerweise schreiben zu können: über die Kriterien der Herausbildung von Eliten bzw. Führungsschichten in ihrer Einheitlichkeit oder Heterogenität, über sozialen Aufstieg und die zeitgenössische Kritik daran, über soziale Mobilität oder soziale Konsolidierung und Verfestigung? Erkenntniserweiternde Beispiele für all dies findet man in dem Band in großer Zahl, so dass er zweifellos zu einem wichtigen Bezugspunkt für die weitere Erforschung der Gesellschaft im späteren MA werden wird.

Joachim Schneider