Regine Krull / Olav Heinemann (Hg.), Die Gebeine eines Helden. War Widukind schon vor seiner Taufe Christ? (Stadt Enger – Beiträge zur Stadtgeschichte 12) Bielefeld 2025, Verlag für Regionalgeschichte, 73 S., 44 Abb., ISBN 978-3-7395-1551-9, EUR 19,90. – Die von dem renommierten MA-Archäologen Uwe Lobbedey (1937–2021) geleiteten Ausgrabungen in der ehemaligen Stiftskirche zu Enger in den Jahren 1971–1973, die durch eine Restaurierung und den Einbau einer Fußbodenheizung bedingt waren, brachten neben Vorgängerbauten in unmittelbarer Nähe des Altars der bestehenden gotischen Kirche auch drei männliche Bestattungen zutage, die rasch Aufsehen erregten. Aus stratigraphischen Überlegungen setzte Lobbedey diese Gräber zeitgleich zum archäologisch erfassten Bau I, einem rechteckigen Saal mit eingezogenem, quadratischem Chor. In diesem frühma. Chorraum befand sich Grab 447 in der NO-Ecke, Grab 462 in der SO-Ecke und das Grab 463 mit dem Fußende unter dem Antritt der Stufe in den Chor. Sechs weitere Gräber wurden im östlichen Kirchenschiff erfasst. Im westlichen Außenbereich ist ein Friedhof zu rekonstruieren. Bau I und damit die Chorbestattungen datierte der Ausgräber über zerscherbte Keramikfunde des 8./9. Jh. in einer Lehmschicht, einer möglichen Planierschicht. Bau II stellt eine Erweiterung dar, die wegen ihrer Stollenkrypta vom spätkarolingisch-ottonischen Typ mit der historisch seit der Mitte des 10. Jh. bezeugten Nutzung als Maria und Laurentius geweihte Stiftskirche (als Gründung von Widukinds Nachfahrin Königin Mathilde) in Verbindung zu bringen ist. Den folgenden Bau III setzte Lobbedey in das späte 10. bis 11. Jh. In Grab 463 wurde nach den Ausgrabungen versuchsweise die Bestattung von Herzog Widukind erkannt. Bei der gezielten Suche nach ihm im Zusammenhang mit der Errichtung des romanischen Baus IV hätte man fälschlich die Gebeine einer jungen Frau aus Grab 466 erhoben, die dann als Widukind-Reliquien galten (so der Stand bei Dietrich Ellger [Hg.], Die Ausgrabungen in der Stiftskirche zu Enger 1, 1979). 1414 wurde das Stift St. Johannes und Dionysius unter Mitnahme der Widukind-Reliquien nach Herford verlegt. In Enger verblieb das steinerne romanische Grabrelief für Widukind, das auf einem renaissancezeitlichen Unterbau liegt und Beischriften aufweist. 1822 gelangten die vermeintlichen Widukind-Gebeine wieder nach Enger zurück und sind seitdem hinter dem Altar in einem hölzernen, altarretabelartigen Schrein verwahrt. Ob sich die mindestens seit dem 12. Jh. nachweisbare Lokalisierung des Widukind-Grabs in der Stiftskirche von Enger überhaupt wissenschaftlich halten lässt, wurde anhand des Nachweises Dominator UUituchind im Verbrüderungsbuch des Klosters Reichenau von Gerd Althoff thematisiert, der Widukind als Mönch auf die Bodenseeinsel verbannt sah. Gegen diese Identifizierung wandte sich Eckhard Freise, Widukind in Attigny, in: 1200 Jahre Widukinds Taufe (1985) S. 12–45. Nach der vor der Mitte des 9. Jh. von Altfried verfassten Vita Ludgeri soll Widukind 797 einen Pferdedieb nach sächsischem Recht bestraft haben. In der 865 im Kloster Fulda entstandenen Schrift De miraculis sancti Alexandri werden Widukinds Nachfahren als ehrenhafte Amtsträger genannt, unter ihnen sein Enkel Graf Waltbert (851 Gründer des Stifts St. Alexandri an der Stelle seines Herrenhofs Wildeshausen im Oldenburger Land) und sein Urenkel Bischof Wigbert von Verden (amt. 874–908). Widukind von Corvey führte in seiner Sachsengeschichte die Genealogie bis auf Königin Mathilde, die Ehefrau Heinrichs I., weiter. Der späten Überlieferung in der Kaiserchronik (Mitte 12. Jh.) zufolge wäre Widukind Ende des 8. Jh. von Gerold von Schwaben, dem Schwager Karls des Großen, heimtückisch erschlagen worden. Mit verbesserten anthropologischen Methoden wurden die drei Gräber 447, 462 und 463 neuerlich untersucht. Dabei wurde eine Verwandtschaft der Männer festgestellt und wegen eines regionalen Herkunftsnachweises eher Grab 462 mit Widukind identifiziert (Bernd Herrmann / Hedwig Röckelein / Susanne Hummel, Widukinds Fingerzeig? in: Westfälische Zs. 153, 2003, vgl. DA 62, 477). Eine weitere anthropologische Nachuntersuchung fand 2007 statt. Zum Forschungsstand wurde 2023 ein zweitägiges Kolloquium veranstaltet, dessen Ergebnisse mit einem Vorwort der Hg. (S. 9f.) und sieben Beiträgen nun gedruckt vorliegen. Die Kreisarchäologin Sara Snowadsky (S. 11–16) versucht einleitend eine Zusammenfassung der Grabungen von Lobbedey. Die Göttinger Anthropologin Susanne Hummel (S. 17–30) fasst ihre morphologischen und genetischen Untersuchungen zu den drei Männern zusammen. Ronny Friedrich (S. 31–38) erläutert die 14-C-Messungen der Knochen, bei denen Mehrfachmessungen und die Berücksichtigung der Verwandtschaftsverhältnisse etwas jüngere Datierungen ergeben. Vera Brieske (S. 39–48) thematisiert ein mögliches Christentum in der Saxonia vor Karl dem Großen. Die Hg. (S. 49–51) formulieren ein Zwischenfazit. Danach bilanziert Gerd Althoff (S. 52–66) unsere Kenntnisse über den Sachsenherzog Widukind und sein Schicksal nach der Taufe und tritt weiter dafür ein, dass er bald nach 825 im Kloster Reichenau verstarb. Das Schlusswort der Hg. ist etwas hoch greifend „Widukindforschung im 21. Jahrhundert“ betitelt (S. 67f.). Was bleibt nun als neue Erkenntnis für die Diskussion? Grab 462 gehörte zu einem 1,82 m großen Mann, der im Alter von etwa 60 Jahren um 800 verstarb, eine Versteifung der Wirbelsäule und eine nicht gut verheilte Fraktur des rechten Mittelfingers aufwies. Auffallend war die festgestellte Parodontose; gegen diese und starke Zahnsteinbildung betrieb der Mann eine zu intensive Zahnhygiene mit einem unserer Zahnseide ähnlichen Material, was zu Schlifffacetten und Knochenrückzug führte. Zeit seines Lebens dürfte der Mann ein intensives Schwertkampftraining absolviert haben, was an einer stärkeren Ausbildung des rechten Oberarmknochens ablesbar ist. In Grab 447 lag ein noch nicht ganz ausgewachsener junger Mann, der im Alter von 15–17 Jahren um 775 verstarb und der Sohn des Individuums 462 gewesen sein dürfte. Der in Grab 463 Bestattete war ein enger Verwandter, vermutlich der etwas ältere Halbbruder zu Individuum 462. Er verstarb ebenfalls im Alter von etwa 60 Jahren am Ende des 8. Jh., zeigte Blockwirbel und O-Beine infolge lebenslangen Reitens. Im Einklang mit der historischen Überlieferung könnte nur diese in medio ecclesiae und ante altare vollzogene Bestattung weiter als Herzog Widukind diskutiert werden. Fasst man den archäologisch-baugeschichtlichen Befund damit zusammen, dürfte eine adlige Kirchenstiftung im letzten Viertel des 8. Jh. vorliegen, für die die Familie Widukinds verantwortlich sein dürfte. Nimmt man dafür Widukinds überlieferte Taufe in der Königspfalz Attigny im Jahr 785 als Anlass, ergäbe sich daraus, dass das adoleszente Individuum von einem wohl benachbarten Bestattungsplatz in einem Baumsarg (?) in den Chor der neu errichteten Kirche seiner Familie umgebettet worden sein könnte. Wenn dem nicht so war, böte sich für den Sachsenherzog aber schon um 775 ein christliches Umfeld und seine „Taufe“ könnte als eine Art fränkische Kriegspropaganda interpretiert werden.
Bernd Päffgen