Fred Ruchhöft, Die Lutizen. Zur Geschichte der Slawen zwischen Elbe und Oder (Goldberger Studien zur mecklenburgischen Geschichte) Goldberg 2024, Natur-Museum Goldberg, 313 S., 30 Abb., ISBN 978-3-9825911-1-7, EUR 38. – Für den Slawenaufstand von 983 und die Herrschaftsbildung der Lutizen war die Forschung bis jetzt auf das 1955 erschienene Buch von Wolfgang Brüske verwiesen (vgl. DA 12, 258f.). Seitdem kamen dazu Einzeluntersuchungen zu Teilaspekten der Kirchengeschichte, der Herrschaft der Ottonen oder der slawischen Völker zwischen Elbe und Oder; die archäologische Forschung hat selbstverständlich enorme Fortschritte gemacht. R. hat sich jetzt vorgenommen, den Stand der deutsch- und polnischsprachigen Forschung neu darzustellen. Seine Ziele sind, die Schriftquellen einer erneuten Kritik zu unterwerfen, den Stand der archäologischen Forschung zusammenzufassen und sie in Einklang mit der historischen Überlieferung zu bringen. Die Studie beginnt mit der frühen slawischen Besiedlung im Spannungsfeld der Obodriten, Wilzen und Heveller und mit den territorialen Ansprüchen der Havelberger Bischöfe. Die territoriale Ausdehnung der einzelnen slawischen Völkerschaften wird rekonstruiert. Behandelt werden dann die ottonische Expansion, der Aufstand von 983, die Identität der Lutizen und ausgewählte Aspekte ihrer Religion, Kultur und Gesellschaft. Schließlich werden die politischen Entwicklungen bis zur Teilung der ehemaligen lutizischen Gebiete zwischen Mecklenburg, Brandenburg und Pommern diskutiert. Zu R.s Ergebnissen gehört eine außerordentlich detaillierte Durchsicht der schriftlichen und materiellen Quellen zu den slawischen Völkern der Region, von den bedeutenden Redariern bis zu kleinsten Gruppen wie den Dossanen. Dazu kommt eine Revision der seit den 1990er-Jahren veröffentlichten Synthesearbeiten. R. bezweifelt, dass für 983 von einem Lutizenaufstand gesprochen werden kann, da bekanntlich die Lutizen erst später in den Quellen auftauchten. Er glaubt nicht, dass das Kopfabschlagen bei den Lutizen als Menschenopfer verstanden werden soll und nicht als Siegestrophäe, wie bei den Christen attestiert. Er stellt fest, dass die Zerstörung des Tempels Rethra 1068 nicht ausdrücklich in den Quellen erwähnt wird, und nimmt an, dass der Tempel nach dem Feldzug weiterhin existierte. Leider werden oft grundlegende Konzeptionen nicht genügend geklärt. Der vor allem auf dem Vergleich verschiedener Überlieferungen basierende Interpretationszugang zu den Quellen hätte, selbst wenn er überzeugt, eingehender begründet werden können. Begriffe wie „ethnisches Bewusstsein“, „Völkerschaft“, „Fürstentum“ oder „Adel“ werden unzureichend definiert. Die Leserschaft hätte sich vielleicht auch eine eingehendere Behandlung sozialer oder kultureller Fragen gewünscht. Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass der Vf. ein außerordentlicher Kenner der historischen und archäologischen Materie ist. Die neue kritische Analyse ist erfrischend: Es kann R. nur zugestimmt werden, dass Vorsicht geboten ist, wenn Darstellungen allein auf der Basis von Sekundärliteratur aufgebaut sind, ohne eigene Einsicht in die Quellen. Mit dem Umfang und der Akribie, wie hier die Quellen durchforstet wurden, wird dieses Buch unersetzbar und inspirierend bleiben.
Sébastien Rossignol