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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,2 (2025) *.

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Jaume Aurell / Montserrat Herrero (Ed.), The Charisma in the Middle Ages (Religions, Sonderbd.) Basel 2024, MDPI, VII u. 214 S., ISBN 978-3-7258-0385-9, CHF 76,30. – Der Band spürt dem Phänomen ‘Charisma’ im MA nach – ein ebenso lohnenswertes wie ambitioniertes Vorhaben. Die Bandbreite der behandelten Themen reicht dabei von den Kreuzzügen über Reliquien, Heilige sowie Könige bis hin zu (charismatischen) Kunstwerken, Dingen und Substanzen, womit der Band seinem Anspruch gerecht wird, „different aspects of medieval society“ (S. 2) zu beleuchten. Diese Breite der Themen spiegelt sich auch in der Interdisziplinarität der Vf. wider. Der Band vereint Althistoriker und Mediävisten, Kunsthistoriker, Sprachwissenschaftler sowie Philosophen. Auch wenn diese Interdisziplinarität ebenso wie der dezidiert historische Ansatz äußerst begrüßenswert ist, so muss doch auch Kritik an der methodologischen Konzeptualisierung geübt werden. Denn anders als so viele andere Forschungen zur Thematik knüpfen die beiden Hg. überraschenderweise nicht bei Max Weber an, dem locus classicus der Charisma-Forschung, sondern sie berufen sich stattdessen auf den „original use“ durch den Apostel Paulus (S. 1). Damit steht der Band von Beginn an unter keinem guten Stern, fällt er doch bereits in der methodologischen Grundausrichtung hinter Max Weber zurück, durch dessen Definition der Begriff „Charisma“ überhaupt erst von einer rein theologischen Kategorie mit ontologischem Zuschnitt zum Instrument einer analytischen Heuristik wurde, mittels derer sich Machtkonstellationen und -dynamiken dechiffrieren lassen. Denn das, was bei Paulus als „a gift of God“ (S. 1) bzw. als „Gnadengabe des Heiligen Geistes“ (Rom. 12,6; 1. Cor. 12) erscheint, ist bei Weber die spezifische Qualität einer Machtbeziehung zwischen mindestens zwei Menschen. Auch wenn man Webers Charisma-Definition durchaus kritisieren kann, ja muss, da hier die besondere Qualität der fraglichen Machtbeziehung über die Kategorie der „Außeralltäglichkeit“ reichlich nebulös bleibt, so bedeutete seine Wendung des Charisma weg von einer ontologischen Qualität einer Person hin zu einer relationalen Größe doch unbestreitbar einen epistemologischen Durchbruch, so dass hier tatsächlich einmal die vielstrapazierte Rede vom Paradigmenwechsel angebracht ist. Der Rez. war deshalb von der Entscheidung der Hg., nicht bei Weber anzuknüpfen sowie die gesamte Charisma-Forschung der letzten Dekaden schlicht zu ignorieren, nicht weniger als überrascht, ja irritiert. Diese Irritation steigerte sich noch durch andere fragwürdige Aussagen der Hg., etwa dass Historiker, anders als die Soziologen, bisher kaum mit der fraglichen Kategorie gearbeitet hätten: „the concept has seldom been considered by historians“ (S. 2). Der Rez. hat selbst einige (nicht nur deutschsprachige) Publikationen zur Thematik vorgelegt – Monographie, Sonderheft und Zeitschriftenartikel –, die allerdings sämtlich unberücksichtigt geblieben sind, obwohl sie sowohl vom Untersuchungszeitraum als auch von der Thematik her einschlägig gewesen wären. Ja, man fragt sich, wie einer Forscherin wie Sini Kangas (S. 125–151), die dem charismatischen Moment in der Chronistik des ersten Kreuzzugs nachspürt, der Buchtitel „Kreuzzug als charismatische Bewegung. Päpste, Priester und Propheten (1095–1149)“ (2019) entgehen konnte. Kurzum, der Band besticht zwar durch Materialfülle und Interdisziplinarität, krankt aber an Theorievergessenheit und einigen bibliographischen Lücken.

Tim Weitzel