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Muriel Bonnaud, Justice et société dans la châtellenie de Bressuire (XIVe–XVe siècle) (Bibliothèque d’histoire médiévale 35) Paris 2024, Classiques Garnier, 577 S., Abb., ISBN 978-2-406-15967-4, EUR 52. – Die Monographie zu Gerichtsbarkeit und Gesellschaft in der Châtellenie von Bressuire, einer ca. 80 km von Poitiers entfernten Kleinstadt im Département Deux-Sèvres, präsentiert Ergebnisse einer 2010 an der Univ. Poitiers abgeschlossenen Diss. Es handelt sich hier um ein relativ kleines, überwiegend ländlich geprägtes Territorium in der ehemaligen Sénéchaussée von Poitiers mit 46 Pfarrgemeinden. Es befand sich seit dem 11. Jh. im Besitz der Adelsfamilie de Beaumont und hatte, wegen sich überlagernder Lehnsverhältnisse, noch keine klaren Grenzen im heutigen Sinn. Die Region musste sich von den Folgen des Hundertjährigen Kriegs erholen, ihre Bevölkerung war arm. In der Stadt Bressuire lebte ein erheblicher Teil der Einwohner vom Textilgewerbe, im Umland spielten Viehzucht und Getreideanbau eine wichtige Rolle. Die Vf. untersucht drei Zeitabschnitte: das Ende des 14. / die ersten Jahre des 15. Jh., die erste Hälfte des 15. Jh. und die Jahre 1440–1492 unter dem am Hof Ludwigs XI. lebenden Jacques de Beaumont (S. 30). Im 15. Jh. waren die Herren von Beaumont meistens abwesend und ließen sich vor Ort durch Amtsträger aus niederem Adel und neuadeligem Bürgertum vertreten. Im Mittelpunkt der Studie steht v.a. die Auswertung des sogenannten Chartrier de Saint-Loup, bzw. von 109 Gerichtsregistern und Registern von Strafgebühren und Geldstrafen zu drei Typen seigneurialer Gerichtsbarkeit: plaids, assises und grandes assises. Register der plaids, des untersten Niveaus der Gerichtsbarkeit, die in zeitlichem Zusammenhang mit Markttagen standen, sind seit 1385 überliefert. Für die Streitparteien, überwiegend einfache Leute, betrug die Entfernung zum Gerichtsort selten mehr als 10 km. Es ging hier v.a. um unbezahlte Schulden, Lohnforderungen und Beleidigungen. Die assises fanden, von außerordentlichen Sitzungen abgesehen, einmal monatlich statt. Ihre Parteien gehörten auch gehobeneren Gesellschaftsschichten an, was sich bei Streitgegenständen und -werten niederschlug. Die petites assises wurden oft von bürgerlichen Richtern abgehalten, die grandes assises vom adeligen sénéchal. Letztere waren erstinstanzlich für den Adel zuständig und, als Appellationsinstanz, für die genannten Untergerichte. Hier wurden bedeutendere Fälle, Erbstreitigkeiten im Adel, schwere Delikte und Prozesse verhandelt, in denen die Todesstrafe drohte (z.B. Mord, Hexerei). Das Buch besteht aus drei großen Teilen mit jeweils mehreren Unterkapiteln. Im ersten Teil werden die Châtellenie und ihre Justiz vorgestellt: die Typologie der Quellen; das Gebiet und sein territorialer Zuschnitt; Herrschafts- und Vasallitätsverhältnisse; Gerichtsbezirke; Typen, sozialer Hintergrund und Ausbildung des teilweise (auch durch die Nähe zur Universitätsstadt Poitiers) bereits gelehrten Justizpersonals; Verordnungen zur Regelung der Handwerksausübung, zu Hygiene und Sicherheit, zur Moralisierung des Verhaltens (gegen Gotteslästerung und Spiel) und die Vorbildfunktion der königlichen Gesetzgebung; das von den Gerichten angewendete Verfahren (mit Verweisen auf den Vieux Coutumier de Poitou und ikonographische Darstellungen). Im zweiten Abschnitt geht es um die Parteien, ihre soziale Zusammensetzung; die Verfahrensgegenstände; im Alltag weit verbreitete (und oft tolerierte) Gewalt; den Umgang mit Diebstahlsdelikten; Konflikte aus dem Bereich des Handwerks; die Folgen von Armut und Verschuldung; Nachbarschaftsstreit; die Bestrebungen zur Instandhaltung von Verkehrswegen; Maßnahmen zu Sauberkeit und Hygiene, usw. Der letzte Abschnitt behandelt die Frage nach Repression oder Aussöhnung und geht u.a. auf Verfahrens- und Prozessabläufe, Strategien der Parteien, Gerichtskosten und -einnahmen und Straftypen ein, z.B. Geld- und Ehrenstrafen (Pranger, amende honorable); Strafwallfahrten; zeitweilige oder dauerhafte Verbannung; Hinrichtung (z.B. wegen Hexerei, 1475). Im Anhang sind Quellen zu zwei Prozessen vor den grandes assises, zu adeliger Gewalt und zu einem Mordfall ediert. Insgesamt kommt die Vf. zu dem Ergebnis, die von ihr untersuchten Gerichte seien vor allem bestrebt gewesen, die Parteien durch Verhandlungen zu einer Konfliktlösung zu veranlassen und den Dialog zwischen ihnen wieder in Gang zu bringen. Der Charakter als Repressionsinstrument habe demgegenüber im Hintergrund gestanden: Gütliche Einigungen (accords) waren häufig und vielfach schneller und effektiver. Obwohl sich auch hier der Inquisitionsprozess verbreitete und die Schriftlichkeit der Verfahren schnell zunahm, griffen die behandelten Gerichte weiterhin sehr stark auf das Akkusationsprinzip zurück. Die sonst vor allem aus Nordfrankreich bekannten asseurements zum Ausgleich der Parteien bei (Gewalt-)Delikten zur Wiederherstellung des Friedens und Racheverzicht waren noch weit verbreitet. Der Einfluss der königlichen Gerichte machte sich jedoch immer stärker bemerkbar. Da sonst die Überlieferungslage für ländliche und kleinstädtische bzw. seigneuriale Gerichte kleiner Territorien häufig schlecht ist, ermöglichen die hier untersuchten reichhaltigen Quellen einen äußerst wertvollen Einblick in diese Form der Gerichtsbarkeit und das Leben der Bevölkerung. Studien dazu sind noch relativ selten und sollten häufiger durchgeführt werden. Das Buch trägt damit in sehr interessanter und erfreulicher Weise zum Schließen einer Forschungslücke bei.

Gisela Naegle