Lea Raith, Die Stadt Köln und ihre Heiligen. Lokale Geschichtsvorstellungen in der Hagiographie des 10.–12. Jahrhunderts (Beiträge zur Hagiographie 29) Stuttgart 2024, Franz Steiner, 292 S., ISBN 978-3-515-13733-1, EUR 56. – Das römische Köln war umgeben von Nekropolen mit Grabbauten, die zu Keimzellen der Erinnerung und Verehrung wurden; frühma. Kirchbauten und Stiftsgemeinschaften folgten. Zahllose Knochenfunde deuteten auf ganze Heerscharen von heiligen Jungfrauen und Märtyrern der Thebäischen Legion, und zu ihnen gesellten sich als heiligmäßig verehrte Bischöfe. Bereits seit karolingischer Zeit galt die Stadt selbst als heilig im Schutz zahlloser Heiliger, die in Reliquien präsent waren, ein starkes Identifizierungs- und Integrationsangebot für die Menschen, die in die ständig wachsende Stadt zogen. Karl Ubl stellte unlängst die frühma. Stadtgeschichte unter das Leitmotiv der heiligen Stadt (vgl. DA 80, 371–373). Er ist der Betreuer dieser Diss., in deren Zentrum zwölf hagiographische Werke stehen, die unter der Leitfrage analysiert werden, wie die Vergangenheit der Stadt imaginiert und dargestellt wird (BHL 3446; 8426–8428/30; 7647–7648; 2365–2367; 2014–2015; 2016–2017; 7040–7041; die hinreichend erforschten und edierten Viten der Erzbischöfe Brun, Heribert und Anno II. sind nicht Gegenstand der Arbeit). Da wissenschaftliche Editionen der Texte kaum vorliegen, musste die Vf. sich in einem bisweilen komplizierten „Verhau“ von Hss., Fragmenten und barocken Drucken orientieren, was ihr mit Übersicht, Belesenheit und Urteilskraft gelang. Kontextualisiert werden die hagiographischen Werke durch Schenkungsurkunden, Kalendare, Litaneien usw. sowie durch Ausgrabungsberichte und materielle Überreste. Die Kölner waren umgeben von steinernen Zeugen ihrer römischen Vergangenheit, die sie im Zusammenhang mit „ihren“ Heiligen deuten und heilsgeschichtlich einordnen wollten. Mit dem Bewusstsein von der eigenen Größe und heilsgeschichtlichen Bedeutung (ein Münzbild bezeichnete Köln um 900 als sancta) setzte im 10. Jh. die Verschriftlichung der Legenden ein, um dieses Selbstverständnis auch historisch zu fixieren. Den Anfang setzte der Kult der Jungfrauen, als deren Anführerin im ausgehenden 10. Jh. Ursula identifiziert wurde; er verbreitete sich in ganz Europa. Die Soldatenheiligen Gereon und Gregorius Maurus mit ihren zahlreichen Gefährten verwiesen auf den Reichsheiligen Mauritius, und ihre schiere Zahl machte Köln zu einem Hauptort der Verehrung der Thebäer. Heilige Bischöfe wie Severin galten als Stadtverteidiger, Bekenner und Wetterheilige. Ihre Viten und Translationen boten Gelegenheit zum Lob der Stadt Köln und ihrer Kirche(n) in verschiedenen Facetten. Dabei bemühten sich die Autoren um plausible historische Einordnungen (nicht zuletzt mit den vorhandenen Bauten) und kohärente Geschichtserzählungen. Das althochdeutsche Annolied, das im Gegensatz zu den anderen Texten nicht in Köln, sondern in Annos Gründung Siegburg entstand, entwarf eine wirkmächtige Geschichte von der Gründung der Stadt zu Lebzeiten Christi durch Agrippa, den Schwiegersohn des Augustus. Die Mission Kölns durch den vermeintlichen Petrusschüler Maternus vollendete das Bild vom ehrwürdigen christlich-römischen Köln, das im Rangstreit nicht hinter Trier zurückstehen musste. Die Entstehungszeit des Annoliedes um 1080 markierte eine zweite Phase der Textproduktion, die auf Krisen und Reformen antwortete und allmählich auch die Stadtbürger als Rezipienten in den Blick nahm, die das „Markenzeichen“ der heiligen Stadt bis in die Gegenwart trugen. Die letzten Schreinsprozessionen, bei denen die goldenen Schreine der Stadtpatrone durch die Straßen geführt wurden, fanden 1980 und 1985 statt.
Letha Böhringer