Zwischen Klausur und Welt. Autonomie und Interaktion spätmittelalterlicher geistlicher Frauengemeinschaften, hg. von Eva Schlotheuber / Sigrid Hirbodian (VuF 91) Ostfildern 2022, Jan Thorbecke Verlag, 403 S., 5 Abb., ISBN 978-3-7995-6891-3, EUR 55. – Für den Tagungsband konnten die 2017 auf der Reichenau gehaltenen Beiträge um drei weitere ergänzt werden, so dass das Gesamtspektrum chronologisch im Wesentlichen vom 11. bis zum ausgehenden 15. Jh. reicht, wobei der Schwerpunkt auf dem 15. Jh. liegt. Geographisch spannt sich der Bogen von Großbritannien über Frankreich, Belgien, Italien, Deutschland, die Schweiz bis nach Österreich, Tschechien und Ungarn. Gerahmt werden die Einzelstudien durch die Einleitung der Hg. (S. 9–21), die einen gründlichen Überblick über „Forschungsfeld und Forschungsstand“ zum Thema geben, und eine Zusammenfassung von Martina Giese (S. 369–389), die sowohl die in den Aufsätzen vorgestellten Ergebnisse als auch die Diskussionsbeiträge der Tagung „in der Hoffnung“ bündelt, „auch der künftigen Reflexion Impulse zu verleihen“ (S. 378). Der Sammelband gliedert sich in die drei Abschnitte „Die Frauengemeinschaften in ihren Beziehungsgeflechten“, „Liturgie und Raum, Sprache und Kommunikation“ sowie „Wirtschaft und Umwelt“ (S. 18). Hedwig Röckelein dominae nostrae cum canonicis – Die Rolle der Klerikergemeinschaften in den hoch- und spätmittelalterlichen Frauenstiften (S. 23–46), beschreibt das Zusammenleben von Kanonissen und Klerikern vom 11. Jh. bis zum Spät-MA, in einem Zeitraum, in dem sich die Kompetenzen und Zuständigkeitsbereiche der Männer stetig erweiterten und sich eigene Herrenkapitel ausbildeten, „eine Frontstellung des Frauen- gegen das Herrenkapitel“ aber „die Ausnahme“ darstellte (S. 45). – Dass geistliche Frauen gleichwohl gegenüber von Männern getragenen Reformmaßnahmen konfrontativ reagieren konnten, zeigt das Beispiel der Dominikanerinnen des Klosters St. Katharina in Nürnberg, das Stefanie Monika Neidhardt, Die Beziehungen zwischen dem männlichen und weiblichen Zweig des Dominikanerordens (S. 95–113), erörtert, und auch das des Dominikanerinnenklosters Klingental in Basel, das durch Christine Kleinjung, Reform und Autonomie: Widerstand gegen dominikanische Reformen Ende des 15. Jahrhunderts im Basler Kloster Klingental (S. 115–148), nachgezeichnet wird. Gelang es den Reformgegnerinnen des Klingentaler Konvents, die Reform mit Hilfe mächtiger (weltlicher) Fürsprecher insgesamt erfolgreich abzuwehren und mit päpstlicher Zustimmung schließlich als Augustinerinnen zu leben, hätten die Nürnberger Nonnen nach Auffassung N.s die Forderungen ihrer Ordensbrüder adaptiert und – verallgemeinernd – „die observanten Schwestern“ des Dominikanerordens „ihre eigene Form der Observanz innerhalb ihrer Konvente“ entwickelt (S. 112). – Welcher Art „Beziehungsgeflecht“ speziell der Gründung von weiblichen Klöstern zugrunde liegen kann, stellt Cristina Andenna, „Franziskanische“ Frauenklöster als Orte dynastischer Selbstrepräsentation und „reginaler“ Handlungsspielräume. Das Beispiel der Kapetinger in Frankreich und der Anjou in Süditalien (circa 1250–1350): eine Fallstudie (S. 47–93), am Beispiel der Klarissenkonvente von Longchamp bei Paris und Corpus Christi in Neapel vor, die beide auf das Engagement einer Königin (Isabella von Frankreich sowie Sancha von Neapel) zurückgehen. – Innerhalb des zweiten thematischen Komplexes widmen sich zwei Aufsätze der Interaktion der Geschlechter im sakralen Raum. Aus liturgiegeschichtlicher Perspektive und unter besonderer Betrachtung der Nonnenemporen fragt Andreas Odenthal, Exklusivität innerer und äußerer Räume. Zur liturgischen Nutzung der Damenstiftskirchen St. Ursula in Köln, Gerresheim und Nivelles (S. 149–173), anhand von Architektur und Sakraltopographie nach dem Umgang der Kanonissen „mit restringierten Raumnutzungen“ (S. 169), die er – anders als bei Zisterzienserinnen – als „eine inszenierte Exklusivität der besonderen, heiligen Frauen“ (S. 170) und als Ausdruck ihres besonderen Selbstbewusstseins verstehen möchte. – Eigene Gestaltungsspielräume von Nonnen bei der Ausgestaltung der liturgischen Praxis am Festtag Mariä Reinigung beschreibt Margot E. Fassler, Soundings within and without the „Temple“: Liturgical Voices in the Purification Procession (S. 175–200), am Beispiel der Praxis der Benediktinerinnenklöster Paraklet (Frankreich) und Barking (Großbritannien) sowie des Kanonissenstifts Nivelles. – Die damit jeweils einhergehende „immaterielle Entgrenzung der Klausur“ (S. 383) konnte durch in Frauenklöstern geübte Briefpraxis bzw. -kultur auch auf gegenständliche Weise geschehen, wie Lena Vosding, Die Überwindung der Klausur. Briefkultur der Frauenklöster im Spätmittelalter (S. 223–246), in Ausführungen zur Lüner Briefsammlung des 15./16. Jh. zeigt, die aber abschließend feststellt, dass „die Briefkultur in spätmittelalterlichen Frauenklöstern … nicht nur der Überwindung …, sondern auch der Herstellung der Klausur“ diente (S. 246). – Die mit der Entwicklung und Verankerung der Klausur für Frauengemeinschaften in der Kanonistik einhergehende Identitätsstiftung legt Gisela Muschiol, Das Geschlecht der Klausur – Identitäten im 12. Jahrhundert (S. 201–222), unter besonderer Berücksichtigung der Schriften Idungs von Prüfening, Hildegards von Bingen wie auch von Heloise und Abaelard dar, während Nigel. F. Palmer †, Deutschsprachige Autorinnen vor 1300 (S. 247–284), die Werke der drei namentlich bekannten Autorinnen die einem klösterlichen Umfeld angehörten, nämlich Mechthild von Magdeburg, Frau Ava und die Nonne von Zimmern, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. – Der dritte Komplex bündelt drei Beiträge, die der Klosterökonomie gewidmet sind. Maria Magdalena Rückert, Die Wirtschaftsweise südwestdeutscher Frauenkonvente im späten Mittelalter zwischen Klausur und Welt (S. 285–307), schildert, wie unter Einhaltung der Klausur eine funktionierende Klosterwirtschaft gestaltet werden konnte. – Edmund Wareham, Cash for Access: Simony, Convent Entry and the Limits of Reform in the South-West German Cistercian Convent of Günterstal (S. 337–368), thematisiert an diesem Beispiel, „how to balance the temporal needs of the convent with its spiritual functions“ (S. 368). – Als päpstliche Verweigerung wirtschaftlicher Betätigung geistlicher Frauen deutet schließlich Maria Pia Alberzoni, Wirtschaft und deren Verweigerung: Klara von Assisi und das privilegium paupertatis (S. 309–336), das Privileg Gregors IX., das die Vorstellung Klaras von Assisi von der sanctissima paupertas hin zur altissima paupertas verschob, womit „irreversibel und unauslöschlich ihre Trennung vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben“ (S. 335) verbunden war. Alle Aufsätze können über ein Summary und ein Personen- und Ortsregister schnell erschlossen werden. Den Hg. ist es gelungen, verschiedenste Aspekte des Wechselverhältnisses zwischen geistlichen Frauengemeinschaften im Spät-MA und deren gesellschaftlichem Umfeld auf breiter Quellengrundlage strukturiert zusammenzustellen und somit einen erweiterten Forschungsüberblick und aktuellen Forschungsstand zu bieten, der für die fortfolgende Beschäftigung mit diesem Thema eine wichtige Basis bilden kann.
Anne-Katrin Kunde