David Khunchukashvili, Die Anfänge des letzten Zarentums. Politische Eschatologie in der Moskauer Rus’ zwischen Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich (Europa im MA 42) Berlin / Boston 2023, De Gruyter, VIII u. 409 S., ISBN 978-3-11-079010-8, EUR 109,95. – Wer künftig die spezifisch russischen Ausprägungen biblischer und – vor allem – nachbiblischer Apokalyptik bzw. politischer Eschatologie verstehen möchte, dem sei die Lektüre der als Monographie erschienenen Münchener Diss. nachdrücklich nahegelegt. Bedauerlich ist nur, dass Kh. seine luzide Untersuchung im Wesentlichen mit dem 16. Jh. abschließt und nicht weiterführt. Er beschreibt zunächst (S. 2–5) die biblischen Grundlagen (Dan. 2 und 7 und 2. Thess. 2,6–7) sowie die frühkirchliche Interpretation des Paulusworts vom κατέχoν – dem „Aufhaltenden“ –, worunter bereits früh (schon von Paulus selbst?) das Römische Reich als den Antichrist noch aufhaltende Macht verstanden wurde. Hierauf widmet sich Kh. begrifflichen Fragen (S. 6–10). Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, was sich hinter der berühmten Vorstellung von Moskau als Drittem Rom (im Zusammenhang mit der Vier-Reiche-Lehre) verbirgt, wie sie nach dem Fall Konstantinopels geäußert wurde – dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach wie vor die Auffassung kursiere, sie „sei ein Ausdruck der imperial-expansiven Bestrebungen des Moskauer Reichs gewesen“ (S. 22). Nach dieser Einleitung folgt ein Kapitel über die Rezeption politisch-eschatologischen Gedankenguts in der Kiewer Rus’. Notwendigerweise handelt der Vf. auch breit über die syrische und byzantinische Eschatologie als Hauptquellen der politischen Eschatologie in der Rus’; dabei findet auch die westliche Rezeption der ‘großen Themen’ der politischen Eschatologie Beachtung. Zu den wesentlichen Erträgen lässt sich rechnen, dass Endkaisergedanken, wie sie im Westen immer wieder neu aufkamen, in der Rus’ keine Rolle spielten – trotz der Rezeption des Pseudo-Methodius und verwandter Schriften etwa in Zusammenhang mit der Mongoleninvasion. Auch die Ansprüche der späteren Moskauer Rjurikiden auf „Sammlung russischer Erde“ haben ihre Wurzeln nicht in der politischen Eschatologie (S. 72). Vielmehr – und das nimmt bereits das wesentliche Gesamtergebnis der Untersuchung vorweg – stellt der Vf. fest: „Nicht die Gestalt des endzeitlichen Weltherrschers, sondern die Vorstellung vom letzten christlichen Reich als dem letzten Aufbewahrungsort des wahren Glaubens spielte im Rahmen der eschatologischen Herrschaftsvorstellungen, die sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts in der Moskauer Rus’ zu entwickeln begann, die zentrale Rolle.“ (S. 117). Das dritte Kapitel dient der Vertiefung der These durch chronologisches Vorrücken in Richtung des eigentlichen Untersuchungszeitraums (Spät-MA und Frühneuzeit). Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Glauben, dass mit der Jahrtausendwende das Ende der Welt anbreche – in der östlich-orthodoxen Zählung: anno mundi 7000 (= A. D. 1492). Erstaunlich scheint, dass nach dem Befund des Vf. der Fall Konstantinopels (also des Zweiten Rom) in Russland zunächst so gut wie keinen eschatologischen Widerhall gefunden hat. Hier berührt sich die russische Interpretation mit derjenigen post-byzantinischer ebenso wie – weniger erstaunlich – westlicher Chronisten: „Das Ende von Byzanz – kein Ende der Welt“ (S. 153). Besonders breiten Raum nimmt hierauf das ‘Alleinstellungsmerkmal’ der politischen Eschatologie in Russland ein: „Übertragen wurde … nicht der Weltherrschaftsanspruch des letzten christlichen Imperiums [sc. Roms], sondern vielmehr die Würde des neuen Zufluchtsortes der Orthodoxie“ (S. 189). Auch wenn dies, wie der Vf. selbst einräumt, inzwischen weitgehend Konsens in der Osteuropaforschung ist (S. 228), ist in dem Zusammenhang sein Verdienst hervorzuheben, diese Erkenntnis auf ein sehr breites Quellenfundament zu stellen und im Vergleich fruchtbar zu machen. Und er liefert auch eine Begründung für die Andersartigkeit eschatologischen Denkens; er erkennt sie in der weit geringeren Integration (hoher) russischer Kleriker in das politische Leben gerade im Vergleich mit der lateinischen Christenheit. Das vierte Kapitel setzt vornehmlich den berühmten Brief des Mönchs Filofej (vor 1524; Moskau als „Drittes Rom“ im Sinne des letzten Gefäßes der Orthodoxie) in einen überaus breiten Rahmen. Erkenntnis: Westliche Eschatologie wurde rezipiert (im zustimmenden und ablehnenden Sinn), etwa die frühneuzeitliche „Judizialastrologie“. Als Anregung sei angemerkt, dass gerade georgische Endzeitvorstellungen bei Kh. keine Rolle spielen, obwohl das Königreich zumindest bis ins 16. Jh. ebenfalls ein unabhängiges orthodoxes Reich blieb. Hier wäre es aber eine interessante Aufgabe für die weitere Forschung, zu fragen, ob und inwieweit auch hier eine politische Eschatologie auf die Eroberung Konstantinopels reagierte. Dessen ungeachtet stellt Kh.s Monographie eine wichtige Studie dar – angesichts aktueller in Moskau vertretener, auch eschatologisch geprägter Sinnzuschreibungen mehr denn je.
Dirk Jäckel