Im Schatten der Großen? Fürstliche Nebenlinien im spätmittelalterlichen Südwesten, hg. von Stefan G. Holz / Thorsten Huthwelker / Benjamin Müsegades (Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 20) Heidelberg 2024, Winter, VI u. 372 S., Abb., ISBN 978-3-8253-9572-8, EUR 56. – Der Sammelband thematisiert die meist weniger beachteten sogenannten Nebenlinien süddeutscher Dynastien. Mit einer Hinführung auf die Problematik, acht beispielhaften Beiträgen und einer Zusammenfassung bietet er ein facettenreiches Bild, wobei die pfälzischen Beispiele und ihre Linienvielfalt einen großen Anteil ausmachen – was angesichts der Hg. und Initiatoren naheliegt. Alexander Sembdner (S. 13–54) stellt eingangs übergreifend die aus der Perspektive der Nachwelt ideologisch negativ geprägte Beurteilung von Landesteilungen und den Terminus Nebenlinien zu Recht in Frage. Aus einer einheitsstaatlichen (nationalen) Sicht sind alle Teilungen negativ zu bewerten, noch bevor die Folgen auch nur hinterfragt wurden. S. stellt dieser Sicht andere Perspektiven entgegen, mit denen er die Teilungen beispielsweise als rationale Strategie zur Konfliktvermeidung oder auch als Instrumente des Ausgleichs – neben vielen weiteren Aspekten – deuten kann. Teilungen sind nicht per se eine „Wurzel allen Übels“, wie er seinen Beitrag überschreibt, sondern sie können zur Prävention von Erbstreitigkeiten und zum Interessenausgleich innerhalb der Dynastie als Verband dienen, sie können eine Professionalisierung und Modernisierung der Landesherrschaft bewirken, Wissen generieren und sind grundsätzlich multiperspektivisch zu betrachten. Wie nahezu alle Beiträge des Bandes zeigen, sollte man nicht vergessen, dass langfristige Folgen, Entwicklungen und Ergebnisse unvorhersehbar sind. Die Terminologie von Haupt- und Nebenlinien ist zwar traditionell fest verankert und kaum zu ignorieren, doch beispielsweise im Beitrag von Konrad Krimm (S. 139–173) zu Badenern und Hachbergern werden diese Bezeichnungen besonders fraglich. Unterscheidungen von Haupt- und Nebenlinien waren selbst bei den Zeitgenossen entweder nicht bekannt, oder sie waren variabel oder hatten keine oder nur untergeordnete Bedeutung. Dienste, Netzwerke und Konnubien gaben viele Impulse für unerwartete Entwicklungen. Die von Ernst Schubert geprägte Formel „Biologie gestaltet Herrschaft“, oder kurz die biologischen Zufälle, gepaart mit Fragen der Macht und vielen anderen Komponenten sind in allen Beiträgen neben den Planungen und Teilungen die ausschlaggebenden Faktoren. So können Neben- und Hauptlinien ihre Rollen tauschen, Linien können konkurrieren, zusammenarbeiten, sich ergänzen oder ersetzen und genealogische Wendepunkte sein, ohne dass die weitere Existenz eines Fürstentums im Voraus planbar oder gar determiniert gewesen wäre. Für die Pirouetten und die historischen Hilfsbenennungen von Haupt- und Nebenlinien liefert der Band zahlreiche Beispiele, sei es die pfälzische Dynastie, die in ihrer Gesamtheit sowohl Sackgassen wie Fortbestand zeigt, oder die Grafen und Herzoge von Württemberg, die dynastische Ersatzlösungen und Rochaden hervorbringen. Gemeinsam haben alle Beispiele, dass die Entwicklung ungeplant und unplanbar war. Die Bezeichnungen als Große und Kleine, Haupt- und Nebenlinien sind letztlich retrospektive Etikettierungen und Projektionen, um historische Entwicklungen in ihrer Vielfalt zu beschreiben. Der Band bietet durch die Darstellung der Pluralität und Variabilität von überraschenden oder auch vorhersehbaren Wendungen der dynastisch-landesgeschichtlichen Forschung im Südwesten des Alten Reichs reichhaltige Anregungen und gibt viel Stoff für weiterführende neue Interpretationen.
Dieter Speck