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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,2 (2025) *.

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Les monstres des hommes. Un inventaire critique de l’humanité au XIIIe siècle. Édition bilingue, avec ses enluminures, traduite, présentée et annotée par Pierre-Olivier Dittmar / Maud Pérez-Simon (Champion Classiques, série Moyen Âge) Paris 2024, Honoré Champion, 352 S., Abb., ISBN 978-2-38096-095-2, EUR 18. – Der hier vorgestellte Traktat war über lange Zeit vergessen, trotz der Edition von Alfons Hilka (Eine altfranzösische moralisierende Bearbeitung des Liber de monstruosis hominibus Orientis aus Thomas von Cantimpré, De naturis rerum, 1933). Erhalten in einer einzigen Hs., Paris, Bibl. nationale, fr. 15106, in Form von 1812 paarweise gereimten Achtsilblern, die in 42 Abschnitten jeweils ein Monstrum behandeln, war der Text zweifellos schon im MA kaum verbreitet. Die neue Edition ist aus einer langjährigen Zusammenarbeit hervorgegangen. Sie will nun diesem originellen und nicht einfachen Werk Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie es durch eine Übersetzung und einen reichhaltigen Kommentar erschließt. Voraus geht eine umfangreiche Einführung (100 S.), die sich vor allem mit der politischen Dimension des Gedichts befasst. Denn in der Tat nutzt der Autor seinen Monsterkatalog für eine strenge Kritik an der Ordnung der Gesellschaft, die niemanden schont, vom Adel und den Kirchenfürsten bis hin zu den Armen. Laut den Vf. kann man einer vollständigen Umwertung zusehen: Nicht mehr das Monster ist der Menschenfresser, sondern der Adlige an der Tafel; das Monster ist also nicht derjenige, den man dafür hält. Damit bedeutete das Gedicht einen Bruch mit der traditionellen Vorstellung, die eine klare Trennung zieht zwischen den Monstern und der Menschheit, und verträte einen anthropologischen Relativismus. Die Erkenntnisse über den Entstehungskontext decken sich mit der bisherigen Forschung. Die einzige historische Persönlichkeit, die in dem Gedicht genannt wird, „la dame d’Enghien“, ist mit Marie von Rethel zu identifizieren, damit fiele die Redaktion in die Zeit zwischen 1266 und 1289. Die Abschrift selbst ist auf die letzten Jahre dieses Zeitraums zu datieren, sie dürfte zwischen 1285 und 1287 angefertigt worden sein. Weiterhin bietet die Einführung eine gründliche Beschreibung des Inhalts der Hs., sowohl des Textes als auch der Illuminationen, eingebettet in den geistigen und literarischen Kontext. Quellen und Parallelstellen werden sorgfältig nachgewiesen, um dem Entstehungsprozess und dem Umfeld des Autors näherzukommen. Das Gedicht basiert zwar prinzipiell auf dem Liber de monstruosis hominibus Orientis des Thomas von Cantimpré, ist aber eher eine Bearbeitung als eine Übersetzung. Versbau und Stil werden eingehend analysiert. Die eigentliche Edition stützt sich weitgehend auf diejenige von Hilka und berücksichtigt die Korrekturen von Alfred Schulze und Ferdinand Flutre. Begleitet wird sie von einer ausgesprochen sorgfältigen Übersetzung in modernes Französisch, die gegenüber den Archaismen der akademischen Sprache ein mehr zeitgemäßes Französisch bevorzugt. Angesichts von sehr hermetischen Passagen, vom Spiel mit Doppeldeutigkeiten und mit verschiedenen Sprachregistern, war die Anfertigung einer solchen Übersetzung eine echte Herausforderung; zugleich war sie für die beiden Editoren aber auch deutlich erkennbar ein hilfreiches hermeneutisches Werkzeug und hat ihre Untersuchung des Textes befördert. Auf Edition und Übersetzung folgt ein Kommentar zu den einzelnen Abschnitten, in dem man eine Vorstellung jedes Monstrums findet, eine Erklärung der Bilder und den entsprechenden Abschnitt der lateinischen Quelle, auf die sich der Dichter stützt. Die kundige und informative Neuedition wird wissbegierigen Lesern mit den verschiedensten Interessen (Geschichte, Anthropologie, Literatur, Kunstgeschichte) den Zugang zu diesem eigenartigen Gedicht merklich erleichtern, das sich ohne Führung nur schwer erschließen würde.

Frédéric Duval (Übers. V. L.)