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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,2 (2025) *.

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Andrew H. Sorber, Prophecy and Politics in the Early Carolingian World (Apocalypse and the Global Middle Ages) Abingdon 2024, Routledge, 273 S., ISBN 978-1-032-42272-5, GBP 145. – Aufgrund des Titels und der Reihe, in der die Monographie erscheint, würde man erwarten, dass sie in der Tradition der neueren Werke zur frühma. Eschatologie steht. Bei der Lektüre der gut recherchierten und übersichtlichen Studie über den politischen Diskurs der Karolinger wird jedoch schnell klar, dass S.s Sichtweise auf „Prophetie“ eher den Arbeiten von u.a. Mayke de Jong, Irene van Renswoude, Jennifer Davis, Robert Evans und Paul Dutton zu verdanken ist. Das Buch ist in seiner fast bewundernswerten Vermeidung allzu apokalyptischer Denkweisen keine Erkundung von Zukunftsvisionen, sondern ein „survey“ über die Weise, wie kirchliche Eliten des späten 8. und frühen 9. Jh. versuchten, den Willen Gottes in der Gegenwart auf der Grundlage der gegenwärtigen Ereignisse zu bestimmen. Es handelt sich also in erster Linie um eine Studie über die Überschneidung zwischen theologischen und politischen rhetorischen Strategien an den Höfen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen; eine Studie über die Art und Weise, wie sich dies in Ratschlägen an die Herrscher über alles, was ihre Aufmerksamkeit erforderte, niederschlug – und letztlich darüber, wie sich diese Entscheidungen in eine Politik einfügen konnten, die den Willen Gottes widerspiegelte. S. ist großzügig mit seiner Anerkennung der sprichwörtlichen „Giganten“, auf deren Schultern er steht, aber das sollte nicht von den interessanten Analysen ablenken, die er anbietet. S.s Idee, dass die prophetische Rhetorik unmittelbare Absichten verfolgte und nicht nur Reflexionen über die ungewisse Zukunft lieferte, führt zu wertvollen neuen Einsichten in die Funktionsweise der karolingischen „discourse community“ und in die Art und Weise, wie neue Ideen innerhalb der In-Crowd generiert wurden. So wirft er ein neues Licht auf die Unterschiede zwischen Ludwig dem Frommen und seinem Vater, indem er zeigt, wie sich das Konzept der „göttlichen Eingebung“ von einer vorsichtigen Erklärung für den Vorschlag einer Idee zu einer proaktiven Rechtfertigung für eine Entscheidung wandelte – und auch, wie dies ungewollt mehr Verantwortung in die Hände der „Propheten“ legte, als die karolingischen Herrscher vielleicht erwartet hatten. Das Buch behält eine konsequente Perspektive von oben bei und geht nicht weit über die Herrscher und ihr engstes Umfeld hinaus. Auch wenn seine Interpretationen viele überraschende Wendungen enthalten, ist die Auswahl des Quellenmaterials immer noch stark von den vorhandenen Ausgaben abhängig und präsentiert eine Art „Greatest Hits“ des karolingischen politischen Diskurses: Einhard, die Annales regni Francorum, die Konzilien von 829, die Admonitio generalis, Agobard (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Adversus legem Gundobadi, das jedoch viele ähnliche Themen berührt) usw. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen sich der Vf. an Hss.-Studien wagt, sind interessant, machen aber auch deutlich, dass er sich oft eher an den Text als an dessen Rezeption hält. Ebenso unterstreicht das Buch einmal mehr, dass „karolingische“ Geschichte tatsächlich die Geschichte der Eliten und der Herrscher ist, nicht die des Volkes, das regiert wurde. S. ist sich dessen jedoch sehr bewusst und stellt sicher, dass seine Leser dies wissen: Er extrapoliert nie über das hinaus, was der Text selbst erlaubt. Dies, zusammen mit den ausgezeichneten Zusammenfassungen der behandelten Quellen und einem sehr nützlichen aktualisierten Überblick über die Geschichte der Karolinger von 750 bis 840 im ersten Kapitel, macht das Buch nicht nur zu einer interessanten Auffrischung für jeden, der sich mit dieser Ära beschäftigt, sondern insbesondere auch zu einem wertvollen Lehrmittel. Während erfahrene Forscher an S.s originellen Interpretationen viel Freude haben werden, werden Studenten die Tatsache zu schätzen wissen, dass der Vf. sich bewusst ist, dass sein Denkansatz eigentlich eine Rückkehr zu den Anfängen erfordert, was sein Werk zu einer hervorragenden und zugänglichen Einführung in die politische Rhetorik der Karolingerzeit macht.

Rutger Kramer