Von Bußen und Strafen, Gerichtliche Verfolgung von Unrecht, hg. von Anja Amend-Traut / Peter Oestmann (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 80) Köln 2024, Böhlau, 310 S., Abb., ISBN 978-3-412-53043-3, EUR 65. – Viel zu selten wird die Strafrechtsgeschichte zum Gegenstand rechtshistorischer Untersuchungen, so dass eine kritische Bestandsaufnahme und eine Sichtung neuer Themenbereiche gut tut. Der Tagungsband akzentuiert zentrale Forschungsfelder aus der Zeit vom frühen MA bis in das 20. Jh., formuliert eine Fülle neuer Erkenntnisse und enthält zahlreiche Anregungen für weitere Arbeiten. Vier der hochkarätigen Studien renommierter Wissenschaftler sind dem MA gewidmet. Den Anfang macht Karl Ubl (S. 63–79), der sich der viel diskutierten Frage widmet, in welchen Konstellationen im frühen MA herrschaftliche Strafen verhängt wurden. Für die Zeit Karls des Großen arbeitet er heraus, dass Körper- und Leibesstrafen praktiziert wurden, wenn die Täter unfrei waren. Von Strafen könne auch bei disziplinarischen Maßnahmen im innerkirchlichen Bereich, z. B. der Klosterhaft für Mönche, gesprochen werden, die auf eine Besserung des Delinquenten abzielten. Die Umsetzung eines herrschaftlichen Strafanspruchs sieht U. schließlich auch in dem berüchtigten Strafgericht von Verden, das er überzeugend als königliche Reaktion auf eine Meuterei erklärt. Das unerlaubte Entfernen vom Heer (herisliz) habe Karl zur Ausübung seiner militärischen Disziplinargewalt berechtigt. Mit den hochma. Veränderungen im kirchlichen Prozessrecht beschäftigt sich Markus Hirte (S. 81–102), der zunächst einen prägnanten Überblick über die verschiedenen Formen des kirchlichen Prozesses gibt und sich sodann der Ausbildung des Inquisitionsverfahrens widmet. Indem H. die vollständigen Register Papst Innocenz’ III. mit mehr als 4000 Dokumenten heranzieht, gelingt es ihm, neue Akzente zu setzen und ältere, auf Winfried Trusen zurückgehende Sichtweisen zu präzisieren. H. weist überzeugend darauf hin, dass bereits seit langem bei bischöflichen Visitationen Zeugenbefragungen zur Ermittlung der Sachlage stattfanden. Die inquisitio veritatis sei also nicht erst von Innocenz III. in das Infamationsverfahren eingefügt worden. Die Neuerung, die auf Innocenz III. zurückgehe, sei vielmehr in der Anordnung zu sehen, dass bei offenkundigen Verstößen (clamor) zwingend die Wahrheit ermittelt werden müsse. Neuland betritt Hendrik Baumbach (S. 103–130) mit seiner Studie zu Strafsachen innerhalb der höchsten Gerichtsbarkeit des Heiligen Römischen Reichs im Spät-MA. Zwar sind für diesen Zeitraum nur wenige Strafprozesse fassbar, zu erkennen ist jedoch, dass den Gerichten hinsichtlich der Sanktionen ein erheblicher Spielraum zustand. Schließlich erinnert Guido Rossi (S. 131–156) daran, welche Bedeutung der gelehrten Jurisprudenz für die Ausgestaltung des Strafrechts zukommt. R. untersucht präzise die Lehren der spätma. Juristen zur Kausalität, die in der Glosse noch als chronologische Beziehung zwischen einem früheren Geschehen und einem späteren Ereignis verstanden wurde. Erst Bartolus de Saxoferrato entwickelte den Gedanken der ordinatio, indem er fragte, ob ein mindestens fahrlässig herbeigeführtes Geschehen nach allgemeiner Erfahrung einen bestimmten Erfolg nach sich zog und so eine Kausalkette begründete. Erneut verschob sich die Perspektive bei Baldus de Ubaldis, der auf die Vorhersehbarkeit des Erfolgs beim Handelnden abstellte, um dessen Verantwortung für einen Verletzungserfolg zu begründen. Die Beiträge erhellen exemplarisch, welchen Erkenntnisgewinn nicht nur die Rechtsgeschichte, sondern auch die Sozialgeschichte aus den einschlägigen Quellen zur Strafpraxis und der gelehrten Reflexion gewinnen kann. Zugleich wird schmerzlich deutlich, dass eine moderne zusammenhängende Geschichte des Straf- und Strafverfahrensrechts seit langem fehlt.
Steffen Schlinker