I Franchi. Spoleto, 21–27 aprile 2022 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 69) Spoleto 2023, Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, XV u. 1420 S. in 2 Bden., Abb., ISBN 978-88-6809-384-6, EUR 196. – Die Publikation der im April 2022 abgehaltenen Tagung erfolgte in einem bewundernswert schnellen Tempo. Angesichts des Fehlens einer Einleitung ist es schwer, das Konzept der Tagung zu durchdringen. Aus den Beiträgen ist zu erschließen, dass den Vf. aufgetragen wurde, ihr jeweiliges Fachgebiet möglichst umfassend darzustellen und einen Überblick über die laufenden Forschungen zu geben. Da alles, was Rang und Namen hat, an der Tagung teilnahm, ist ein beachtliches Kompendium entstanden, das die internationale Forschung angemessen widerspiegelt. Die Erschließung der beiden gewichtigen Bände ist jedoch nicht leicht, da Register oder Abstracts nicht zur Ausstattung dieser Reihe gehören. Aus der Masse stechen besonders diejenigen Arbeiten hervor, die nicht nur einen Überblick über das jeweilige Thema bereitstellen, sondern auch genuine Forschungsbeiträge liefern. Rosamond McKitterick, I Franchi: Regnum Francorum, regni territoriali, impero. Le basi dello studio sui Franchi nel secolo diciassettesimo (S. 1–21), beleuchtet Karriere, Hss. und Editionen von Étienne Baluze, mit besonderem Fokus auf seiner zweibändigen Edition der fränkischen Kapitularien. – Helmut Reimitz, Histories of Frankish identity and the Making of Europe in the early Middle Ages (S. 23–53), plädiert in einem weitgespannten Panorama fränkischer Identität für die Akzentuierung von Brüchen, Widersprüchen und konkurrierenden Instrumentalisierungen. – Magali Coumert, Les origines de la loi salique: textes, collections de texte et manuscrits (S. 59–92), stellt die ältesten Hss. der Lex Salica vor und betont die Selbständigkeit der Kopisten bei der Auswahl der Kapitel und Begleittexte. – Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung der Franken, des Frankenreichs und der fränkischen Könige bei Gregor von Tours (S. 97–161) setzt sich kritisch mit der These von Helmut Reimitz auseinander, derzufolge Gregor versucht hätte, fränkische Identität zu dekonstruieren, und betont demgegenüber seine Identifikation mit dem Frankenreich als politischem Gemeinwesen. – Matthias M. Tischler, A Political Testament in the Matrix of Time and Space: Einhart’s Vita Karoli in Italy, Septimania, and Catalonia from the Tenth to Thirteenth Centuries (S. 169–196), verfolgt auf der Basis umfassender Hss.-Studien die Verbreitung der Einhardsvita, die seit dem 10. Jh. in verschiedenen Versionen im Süden rezipiert wurde und mit der Entstehung karolingischer Gründungslegenden einhergeht. – Walter Pohl, The Frankish expansion and the character of interactions with other peoples (S. 203–224), gibt einen magistralen Überblick über fränkische Expansion vom Beginn bis zum 9. Jh. – Óscar de la Cruz Palma, El conocimiento del islam en el mundo franco (S. 229–283), fragt auf der Basis umfassender Quellenrecherchen nach den Gründen für das Desinteresse am muslimischen Glauben im Frankenreich im Unterschied zum Königreich Asturien und zur Kreuzfahrerzeit. – Barbara H. Rosenwein, The emotions of the Franks (S. 291–303), widmet sich Gregor von Tours und deutet sein Werk als „aspirational ethnogenesis“ (S. 302). – Stéphane Gioanni, La propagande théodoricienne contre les Francs d’après les oeuvres d’Ennode de Pavie et de Cassiodore (S. 309–345), bietet ein breites Quellenspektrum (Briefe, Geschichtsschreibung, Münzen). – Édith Peytremann, L’apport de l’archéologie de l’habitat rural à l’étude socio-économique du monde rural du VIe–Xe siècle dans la moitié nord de la Gaule (S. 349–383), beobachtet vor allem im 10. Jh. eine Intensivierung der Landwirtschaft, den vermehrten Einsatz von Metallwerkzeugen und die Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft. – Giuseppe Albertoni, La grande proprietà fondiaria e la sua organizzazione (S. 389–420), diskutiert das Modell von Adriaan Verhulst, das vor allem auf den Brevium exempla beruhe und die Neuerungen der Karolingerzeit überschätze. – Marc Bompaire, Âge de l’or et zone de l’argent, sources d’approvisionnement métallique et politique monétaire (S. 425–469), stellt fest, dass mit dem Umstieg auf die Silberwährung in den 670er Jahren keine Veränderung in der Verwendung von Münzgeld einhergegangen sei. – Alessia Rovelli, Produzione e circolazione monetaria nell’Europa franca (VIII–IX secolo) (S. 473–506), beobachtet eine Stagnation der Geldwirtschaft im karolingischen Italien. – Stefano Gasparri, I Franchi e la guerra: esercito di popolo, clientele, cavalleria (S. 511–538), diskutiert die Kapitularien aus Italien und spricht sich für eine wachsende Bedeutung der Kavallerie im 9. Jh. aus. – Ian Wood, Government, bureaucracy and the exercise of power in the Merovingian kingdom (S. 543–571), stellt das Konzept der Bischofsherrschaft in Frage und zeigt die enge Vernetzung von Hof und Klerus auf. – Bruno Dumézil, Le baptême de Clovis constitue-t-il un „tournant constantinien“? (S. 575–601), zeigt, dass erst Gregor von Tours die Taufe Chlodwigs zu einem epochalen Ereignis machte; die Verlegung der Residenz nach Paris und die Einberufung der Synode nach Orléans sollten nicht unter diesem Vorzeichen gedeutet werden. – François Bougard, Les Francs, la papauté, Rome, VIe–VIIe siècles (S. 607–647), resümiert das Verhältnis der Franken zum Papsttum, vor allem im 7. Jh. – Steffen Patzold, Bishops, power and local churches in the Frankish countryside (S. 651–683), spricht sich für eine Abwendung vom Konzept der Eigenkirche aus. – Florian Mazel, Les Francs et les monastères: pratiques socio-religieuses et enjeux politiques (VIe–IXe siècle) (S. 691–789), gibt einen fast monographischen Überblick über die Entwicklung des Mönchtums, erörtert die Gründe für den Aufschwung im 7. Jh. und akzentuiert die einschneidenden karolingischen Reformen. – Philippe Depreux, Le monde de Marculf: conception, diffusion et réception de modèles d’actes et de lettres à l’époque franque (S. 793–817), schreibt der Formelsammlung Markulfs einen doppelten Nutzen zu: für den Unterricht und für die notarielle Praxis. – Soazick Kerneis, „Qu’il marche au chaudron“. La pérennité de pratiques militaires dans le droit franc (S. 823–838), wiederholt ihre These vom Ursprung des Gottesurteils bei den Kelten des 4. Jh. – Rossana Barcellona, Alterità, identità, poteri nei concili merovingi del VI secolo (S. 841–880). – Franca Ela Consolino, Venanzio Fortunato e le corti merovingie (S. 889–960), beschreibt Venantius als Gelehrten, der nicht als Vermittler auftrat, sondern immer ein Outsider geblieben sei. – Christiane Veyrard-Cosme, Écriture de soi, écriture de l’autre dans les Annales du royaume des Francs (S. 967–990), beschäftigt sich mit der Darstellung der Sachsen als neuer Barbaren in den Reichsannalen. – Marco Mostert, Admonitio generalis c. 70: reading, education and reform (S. 995–1018), findet Abschreibfehler in Hss. genau bei dem Kapitel, das die Emendation der Bücher verlangt. – Alberto Ricciardi, Forme e funzioni dell’epistolografia nel mondo franco (S. 1021–1058), befasst sich mit der Aufnahme von Schreiben Dritter oder von empfangenen Briefen in Sammlungen, besonders bei Desiderius von Cahors. – Achim Thomas Hack, Vom Archiv zum Kodex. Codex Carolinus und Bonifatii et Lulli Epistolae im Vergleich (S. 1063–1083), sieht den Grund für die Anlage von Sammlungen in der schlechten Haltbarkeit von Papyrus. – Carla Falluomini, Le lingue dei Franchi e le altre lingue del Regnum Francorum in epoca merovingia (S. 1085–1109), diskutiert Personen- und Ortsnamen sowie das Verhältnis von Gotisch und Fränkisch. – Pascale Bourgain, Les tendances syntaxiques du latin mérovingien (S. 1115–1143). – Massimiliano Bassetti, Genesi e diffusione della scrittura carolina in rapporto alle precaroline di area franca (S. 1149–1192), beschreibt die Entstehung der Minuskel aus einem Prozess der „neo-minuscolizzazzione“, deren Standardisierung er in die Zeit nach 850 datiert. – Mark Mersiowsky, Vom Kaiserreskript zum Herrscherdiplom. Das Urkundenwesen der fränkischen Könige von den Anfängen bis in die Karolingerzeit (S. 1193–1255), erkennt in den Merowingerurkunden nur eine geringe Distanz zu den zeitgenössischen Privaturkunden, während seit den ersten Jahren Karls des Großen die Einzigartigkeit der Herrscherurkunde betont worden sei; seit den 780er Jahren sei eine „stabile visuelle Identität“ feststellbar. – Cécile Treffort, Une autre culture de l’écrit? Formes, usages et enjeux de la production épigraphique dans le monde franc (VIe–IXe siècle) (S. 1261–1311), gibt einen nützlichen und aspektereichen Überblick über aktuelle Forschungen zur Epigraphik. – Jennifer R. Davis / Beatrice E. Kitzinger, Book composition and the law in the Wandalgarius Codex (S. 1319–1351), zeigen, dass Wandalgarius ein einzigartiges Kompendium hergestellt hat, das sich durch eine enge Verbindung von rechtlichem Inhalt und künstlerischer Ausstattung auszeichnet; die Hs. ist „ein Buch, das Recht repräsentiert“. – Fabrizio Crivello, Identità franca e arte carolingia. Tracce di un’eredità (S. 1355–1368), behandelt Herrscherminiaturen des 9. Jh. – Sebastian Ristow, Architektur im Frankenreich (S. 1369–1391). – Charlotte Denoël / Isabelle Marchesin, Unica enluminés dans le royaume franc durant les dernières décennies du VIIIe siècle: un nouveau langage visuel (S. 1395–1420), zeigen anhand des Godescalc-Evanglistars, des Sakramentars von Gellone und des Psalters von Corbie, wie die Praxis des Bildes sich von der Theorie des Bildes in den Libri Carolini unterscheidet.
Karl Ubl