Florian Besson, Les Seigneurs de la Terre sainte. Pratiques du pouvoir en Orient latin (1097–1230) (Bibliothèque d’histoire médiévale 34) Paris 2023, Classiques Garnier, 544 S., 10 Abb., ISBN 978-2-406-15752-6, EUR 52. – Die deutschsprachige Mediävistik begegnet dem Feudalismusbegriff auch dreißig Jahre nach dem faktischen Ende marxistischer MA-Forschung in Deutschland und über vierzig Jahre nach der Fundamentalkritik von S. Reynolds noch immer mit großer Skepsis. Dass die Beschäftigung mit dem Konzept dennoch gewinnbringend sein kann, zeigt diese Studie zur seigneurialen Herrschaft in den Kreuzfahrerreichen, die auf einer 2017 an der Univ. Paris IV verteidigten Diss. basiert. Im Gegensatz zur jüngeren Kreuzzugsforschung, welche die Kreuzfahrerreiche als multikulturelle Gesellschaften betrachtet und deren Alterität betont hat, möchte B. sie mit Hilfe der Praxeologie in eine Geschichte der (latein-)europäischen Feudalgesellschaften einordnen und damit einen Beitrag zur vergleichenden Erforschung der verschiedenen Spielarten des Feudalismus leisten (S. 18). Im Mittelpunkt stehen Machtpraktiken wie Gesten oder Rituale, anhand derer sich die Regeln nachvollziehen lassen, welche die politische Sprache des Adels strukturierten. Der Fokus liegt dabei auf dem lateinischen Königreich Jerusalem in der Zeit vom ersten Kreuzzug bis zum Beginn der Stauferherrschaft. Als Quellen dienen vorwiegend die zu Beginn des 13. Jh. im Livre au roi kompilierten Rechtsgebräuche des Königreichs, ergänzt durch Urkunden und westliche wie östliche Chroniken (S. 467–479). Im ersten Teil (S. 21–185) widmet B. sich der seigneurialen Herrschaft über Land und Menschen sowie ihren ökonomischen Grundlagen. Ihm zufolge war das Lehen zwar nur eine von vielen Formen der Grundherrschaft, bildete aber den Kern der adeligen Identität, weil es durch die Verpflichtung zum Militärdienst Beziehungen zwischen den Mächtigen stiftete. Das Pferd wiederum sei nicht nur Symbol dieses Kriegeradels gewesen, sondern habe auch die Herrschaft in ihrer räumlichen Ausdehnung strukturiert. Im zweiten Teil (S. 187–327) geht B. dann der Frage nach, wie sich jener Adel als Gruppe konstituierte, nach außen abgrenzte und nach innen differenzierte. Dabei stellt er heraus, dass die seigneurialen Haushalte analog zu denen im Westen um eine fluide Gruppe von Getreuen, Freunden und Verwandten aufgebaut waren, die sich ihnen in Hoffnung auf Entlohnung anschlossen. Die Herrschenden hätten sich von den Beherrschten durch einen seigneurialen Habitus und Symbole der militärischen Überlegenheit abgegrenzt, die jedoch auch Nicht-Lateinern offen gestanden hätten. Der letzte Teil (S. 329–453) behandelt die Dynamiken von Konflikt und Aussöhnung unter den Herrschenden. Diese hätten in ständigem Wettbewerb zueinander gestanden, um ihren Platz in der feudalen Hierarchie zu bestimmen. Dieser Zustand sei durch Praktiken der Machtteilung innerhalb des Adels stabilisiert worden, die an die Mechanismen erinnerten, welche der Ethnologe P. Clastres für „primitive Gesellschaften“ beschrieben hat. Insgesamt illustriert B. eindrücklich, dass eine Auseinandersetzung mit dem Feudalismus, insbesondere dem Modell der Feudalgesellschaft, keineswegs zu unterkomplexen oder ideologisch verbrämten Ergebnissen führt. Seine innovative Studie erschließt zwar keine neuen Quellen, kommt aber durch praxeologische Betrachtung weitgehend bekannten Materials zu Erkenntnissen, die über die Kreuzzugsforschung hinaus auch zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Erforschung von Adelsherrschaft im lateinischen Westen bieten dürften.
Gion Wallmeyer