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Andreas Weber, Die Nürnberger Judengemeinde 1349–1499. Politische Handlungsspielräume jüdischer Akteure im Spätmittelalter (Schriften des Geschäftsbereichs Kultur der Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg 6) Nürnberg 2022, Stadt Nürnberg, 508 S., Abb., ISBN 978-3-9817369-4-6, EUR 27. – Die Arbeit entstand an der Univ. Trier als Diss. unter der Betreuung von Lukas Clemens und wurde für den Druck überarbeitet. Mit ihr wird eine große Forschungslücke geschlossen; bislang existierten nur wenige Arbeiten (vgl. Einleitung, S. 11–22), die sich der jüdischen Gemeinde Nürnbergs gewidmet haben, die vor 1349 nicht nur von großer wirtschaftlicher Bedeutung war (Kapitel 1, S. 25–48). W.s Analyse ihres brutalen Endes 1349 im Kontext von innerstädtischen Spannungen, den Konflikten mit Kaiser Karl IV. und dessen Verpfändungspolitik (S. 34–39) zeigt deutlich, dass individuelle Untersuchungen dieser Verfolgungen (die Problematisierung der Einordnung als „Pestpogrom“, S. 34) die dahinterstehenden allgemeinen Mechanismen um so deutlicher aufzeigen können. In den letzten Jahrzehnten des 14. Jh. (Kapitel 3, S. 51–144) florierte die jüdische Gemeinde zunächst unter vorteilhaften Bedingungen. Vor allem große Geschäftsleute konnten, nicht zuletzt aufgrund des städtischen Bedarfs an Finanzfachleuten, ihre Handlungsspielräume erweitern, während die jüdische Gemeinde als ganze stets auf städtische Privilegien angewiesen blieb, aber auch von den (Geschäfts-)Beziehungen Einzelner profitieren konnte (z.B. bei der Erweiterung des Friedhofs, S. 68). Den durch vielfältige Motive gekennzeichneten „Judenschuldentilgungen“ König Wenzels (1385 und 1390, zur Problematik des Begriffs S. 111) konnten die Juden zwar teilweise Gegenmaßnahmen entgegensetzen (z.B. Schutz anderer Herrschaften, S. 123f.), die Gemeinde erfuhr dennoch eine enorme Schwächung, auch durch die Abwanderung finanzkräftiger Familien noch vor 1390 nach Oberitalien (S. 130–135). In der ersten Hälfte des 15. Jh. (Kapitel 4, S. 147–309) kam es zunächst zu Zuzug von Juden, der durch die dadurch erhöhte jüdische Steuerleistung zwar im Interesse der Stadt war; dennoch wurde ab 1408 über eine Reduzierung der jüdischen Gemeinde verhandelt (S. 160). In den nach 1400 nachweisbaren Geldgeschäften – in einem kaum geänderten Kundenkreis (zur Beurteilungsproblematik S. 186) – fällt die Diskrepanz auf zwischen denjenigen, die rasch wieder hohe Geldsummen aufbringen konnten, und völlig Verarmten. Sowohl in der Stadt gebliebene Familien als auch Zugezogene nutzten die Chancen im allgemeinen Aufstieg Nürnbergs zur Finanz- und Fernhandelsmetropole, große Familien wie die der Gans (S. 171–175) konnten ihre Handlungsräume nach Westen und Süden bis nach Oberitalien ausdehnen. Als „Nadelöhr“ (S. 307) erwies sich das jüdische Bürgerrecht, das den jüdischen Bürgern die Unterstützung des Magistrats bot und von Seiten des Rats strategisch vergeben wurde. Trotz zunehmenden Machtansprüchen des Stadtrats blieb die grundsätzliche Herrschaft über die jüdische Bevölkerung beim König bzw. Kaiser. Mit den ab Sigmund auferlegten reichsweiten Sondersteuern und den Forderungen im Zug der Hussitenkriege erhöhte sich der finanzielle Druck, die Einhebungen (auch durch jüdische Vertreter) und die Involvierung territorialer Herrschaftsträger lassen die Spielräume und Taktiken der jüdischen Akteure – etwa Erlangung von Privilegien (z.B. S. 270–272) oder diplomatische Geschenke – erkennen, führten allerdings auch innerhalb der Gemeinde zu Auseinandersetzungen (z.B. S. 294). Ein ganzes Unterkapitel (S. 294–306) ist der Intensivierung der Zinsdebatte und vor allem der Legationsreise des Nikolaus von Kues gewidmet, dessen Dekret Quoniam ex iniuncto (1451) den Juden die Zinsnahme verbot und das Tragen von Kennzeichen vorschrieb, während christliche Gemeinden, die die Umsetzung verhinderten, mit dem Interdikt bedroht wurden. Im Spannungsfeld der Interessen der Stadt, die das Interdikt verhindern wollte, des Bamberger Bischofs und Friedrichs III. setzte auch die jüdische Gemeinde durch ihre Appellation an den Papst auf eigenständige Aktionen. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. (Kapitel 5, S. 311–365) wurde der Status der jüdischen Bevölkerung durch antijüdische Agitation und die Politik des Stadtrats (strenge Aufnahmepolitik, Einschränkungen in der Gerichtsordnung) geschwächt. Einige dieser Maßnahmen wurden durch Kaiser Friedrich III. abgefangen; gegen die minutiös vom Rat vorbereitete Vertreibung 1498/99 war die jüdische Gemeinde jedoch machtlos. Mit der Vorstellung des vom späten 14. Jh. bis 1472 andauernden Konflikts der Familie Rapp mit der Stadt (S. 350–356) schließt W. mit einer Klammer, die auf individueller Ebene Strategien, Handlungsspielräume und den „schieren Willen“ (S. 356) der jüdischen Familie aufzeigt, für ihre Rechte einzutreten. Hervorzuheben ist neben dem ausführlichen Fazit (Kapitel 6, S. 367–375) der umfangreiche Anhang (S. 377–484) mit der Edition von 23 Quellen, einer tabellarischen Erfassung der Steuerleistungen und den Stammbäumen der drei prominentesten Familien (Rapp, Jekel von Ulm und Isaak von Aichach, Sprinz). Die Reichhaltigkeit und klare Struktur der Studie kann hier nur ansatzweise gewürdigt werden. Trotz der Vielfalt der analysierten Aspekte, die auch auf einer profunden Quellenkenntnis beruht, stehen die im Titel angesprochenen jüdischen Handlungsspielräume stets im Fokus: ein immens wichtiger Beitrag für unser Verständnis von Jewish agency im MA. Mit dem für ein wissenschaftliches Werk außerordentlich niedrigen Preis kann das Buch nur wärmstens empfohlen werden.

Birgit Wiedl