Inschriften zwischen Realität und Fiktion. Vom Umgang mit vergangenen Formen und Ideen. Beiträge zur 12. Internationalen Fachtagung für Epigraphik vom 5. bis 8. Mai 2010 in Mainz, hg. von Rüdiger Fuchs / Michael Oberweis, Wiesbaden 2021, Ludwig Reichert, 336 S., 92 Tafeln, ISBN 978-3-95490-372-6, EUR 42. – Das discrimen veri ac falsi gehört auch heute noch zu den Kernaufgaben der historischen Grundwissenschaften. Der Fachtagungsband stellt sich dem Problem nachgefertigter Inschriften wie Kopien, Restaurierungen, Fiktionen und Fälschungen mit hilfswissenschaftlichen Methoden und materialtechnischen Untersuchungen. Die 15 Beiträge unter Beteiligung von Inschrifteneditoren und -paläographen sowie Spezialisten und Restauratoren für Wand- und Glasmalerei, Stein und Metall ergänzen sich oftmals im Diskurs: Johannes Fried, Inschriften für das Gedächtnis? (S. 15–39), interpretiert die Texte verschiedener Inschriftenarten in ihren ursprünglichen sowie zeitlich und örtlich versetzten Gedächtnisräumen. – Karen Keller, Wandmalerei zwischen alt und neu (S. 41–47), erläutert die methodische und praktische Vorgehensweise bei modernen Wandmalerei- und Steinrestaurierungen. – Susanne Kern, Rekonstruiertes Mittelalter. Zur Freilegung und Restaurierung mittelalterlicher Wandmalerei im Rheingau und am Mittelrhein im 19./20. Jahrhundert (S. 49–62), vermittelt einen Einblick in die allgemeine Entwicklung der Denkmalpflege von historischen Auffassungen bis zu den Ideen und Forderungen der modernen Denkmalpflege. – Daniel Parello, Restaurierung als Interpretation – Risiken der Glasmalereiforschung (S. 63–73), zeigt am Beispiel des Freiburger Münsters auf, dass der Anschein an unversehrt erhaltenen Glasmalereien vielfach trügt und ihre Beurteilung als historische Quelle Gefahren birgt. – Walter Koch (†) / Rüdiger Fuchs, Paläographisches Zwiegespräch (S. 75–94), diskutieren anhand von neun in historisierendem Stil nachgeschaffenen Inschriftenobjekten bzw. Inschriftenensembles die Möglichkeiten und Grenzen der Inschriftenpaläographie bei der Bestimmung und zeitlichen Einordung von Memorialzeugnissen. – Ilas Bartusch, Die Grablege der Markgrafen von Baden im Kloster Lichtenthal (Baden-Baden) nach der Wiederherstellung von 1829/32. Form und Funktion der Gotischen Majuskel aus der Steinmetzwerkstatt Johann Baptist Belzers zu Weisenbach (Lkr. Rastatt) (S. 95–115), ermittelt die Urheber des frühesten und umfangreichsten Inschriftenzyklus in neogotischer Majuskel des Großherzogtums Baden und kann mittels archivalischer Quellen und paläographischer Analyse für die bisher als ma. geltenden sechs Bodenplatten der Markgrafen von Baden ihre neogotische Entstehung nachweisen. – Karen Keller, Zur Clematius-Platte in Sankt Ursula zu Köln: der materielle Befund (S. 117–119). – Clemens M. M. Bayer, Zur Clematius-Platte in Sankt Ursula zu Köln: die Schrift und ihre paläographische Einordnung. Auch ein Beitrag zur Frühgeschichte des Christentums in Niedergermanien (S. 121–157), ordnet die in der gelehrten Forschung zeitlich umstrittene Inschriftentafel – die Datierungsvorschläge reichen vom 4. bis zum 15. Jh. – mit neuem paläographischen Ansatz der 1. Hälfte des 4. Jh. zu. – Clemens M. M. Bayer, Zum metallenen Clematius-Täfelchen in Privatbesitz: Herkunft und Beschriftung (S. 159–173), leistet die wissenschaftliche Erstbearbeitung des fragmentarisch erhaltenen Inschriftentäfelchens, das sich mit B.s paläographischer Einreihung in das 9. Jh. als die älteste bislang bekannte Kopie der steinernen Clematius-Inschrift aus Köln erweisen würde. – Frank Willer / Roland Schwab, Zum metallenen Clematius-Täfelchen in Privatbesitz: der herstellungstechnische und archäometrische Befund (S. 175–179), ziehen gegenüber Bayer einen weit späteren Datierungsspielraum vom späten MA bis ins frühe 19. Jh. in Betracht. – Ingo Seufert, Historizität in Freisinger Inschriften (S. 181–195), demonstriert anhand des außergewöhnlich reichhaltigen Bestands an retrospektiven Inschriften auf dem Freisinger Domberg die subtile Auseinandersetzung der hohen Geistlichkeit mit der eigenen Geschichte und ihren Umgang mit historisierenden Schriften im zeitlichen Wandel. – Cécile Treffort, Le patronage des anciens rois. Clovis, Charlemagne et les autres dans les inscriptions médiévales en France (S. 197–210), widmet sich hochma. Inschriften, die sich auf die Gönnerschaft merowingischer oder karolingischer Könige berufen und auf historischen Fakten oder auch auf reinen Fiktionen beruhen. – Sebastian Scholz, Karolingerpropaganda in Metzer Inschriften (S. 211–226), interpretiert die von Paulus Diaconus verfassten und nur mehr in dessen Gesta episcoporum Mettensium von 784 überlieferten Grabgedichte für die engsten Familienmitglieder Karls des Großen. Ausgeführt in unterschiedlichen Medien, verewigen sie die Leistungen der Karolinger, insbesondere die militärischen Erfolge Karls d. Gr., und schaffen eine geradlinige, möglicherweise fiktive Verbindung zwischen den Karolingern und dem heiligen Bischof Arnulf von Metz. – Jerome Bertram (†), False Ancestors: Inscriptions in England which purport to be earlier than the Date of Engraving (S. 227–241), veranschaulicht mit einer beträchtlichen Zahl von Messinggrabplatten, die oftmals viele Jahre nach dem inschriftlich genannten Sterbedatum entstanden sind, als wie wichtig sich die Epigraphik bei der zeitlichen Neueinordnung und bei der Aufdeckung von Fälschungen erweisen kann.
Franz-Albrecht Bornschlegel