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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Masculinities in Early Medieval Europe. Tradition and Innovation 450–1050, ed. by Francesco Borri / Cristina La Rocca / Francesco Veronese (Seminari internazionali del Centro Interuniversitario per la Storia e l’Archeologia dell’Alto Medioevo 10) Turnhout 2023, Brepols, 306 S., Abb., ISBN 978-2-503-60735-1, EUR 85. – In den letzten Jahren sind mehrere grundlegende Publikationen zu Männlichkeiten im Früh-MA erschienen, und auch dieser Sammelband stellt einen wichtigen Beitrag zu diesem längst nicht vollständig erschlossenen Themenkomplex dar. In elf Aufsätzen, einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung wird Mannsein in verschiedenen Kontexten behandelt. Während die Einleitung von Cristina La Rocca (S. 9–16) den allgemeinen Forschungsstand mit einem Schwerpunkt auf den Diskussionen um ein „third gender“ behandelt, versuchen Francesco Borri / Francesco Veronese (S. 281–291) in der Schlussbetrachtung größere inhaltliche wie methodische Linien des Bandes aufzuzeigen. Angesprochen werden dabei die wachsende Zahl an Männlichkeitsmodellen im Untersuchungszeitraum, die Rolle des imaginierten Anderen, von Institutionen, von Sexualität und sozialer Kontrolle, von Gewalt und diejenige des Körpers bei der Ausprägung dieser Ideale sowie die Bedeutung von Relationalität und Intersektionalität und der Frage nach sozialem Wandel für die Erforschung von Männern und Männlichkeiten. Nicht alle der von den Hg. hervorgehobenen Schlüsse sind gänzlich neu, doch viele der Aufsätze präsentieren innovative Herangehensweisen und Befunde. In der Sektion „Family Matters“ behandelt Annamaria Pazienza (S. 43–62) die selten bezeugte Integration von Männern in den Hausstand ihrer Ehefrauen im langobardischen Italien des 7. und 8. Jh., die sowohl sozialen Aufstieg als auch Unterordnung unter andere männliche Familienmitglieder der Frau bedeuten konnte. Weitere Aufsätze befassen sich mit neuen adligen, weniger familiären und zunehmend kriegerischen Männlichkeitsvorstellungen in der Zeit Justinians (Michael E. Stewart, S. 19–42) sowie den Erwartungen rund um den Übergang zum Mannsein in Spätantike und Früh-MA, die stark an Fortpflanzungsfähigkeit und Vaterschaft geknüpft waren (Andreas Fischer, S. 63–80). Kriegerische Männlichkeiten stehen im Mittelpunkt der nächsten Sektion. Die Beiträge thematisieren unterschiedliche Kleriker und ihre Beziehung zu Gewalt im Merowingerreich (sehr assoziativ Danuta Shanzer, S. 83–111), die Transformation von (hegemonialen) Männlichkeitsentwürfen einer kriegerischen Elite am Übergang von der Antike zum MA (Francesco Borri, S. 113–125) und die Repräsentationen der Männlichkeit Lothars I. sowie die damit einhergehende Propagierung maskuliner Ideale (Leonardo Sernagiotto, S. 127–159). Unter dem Sektionstitel „Clerical Bodies, Clerical Corpses“ finden sich zwei originelle Beiträge. Mit Blick auf „criminal priests“ warnt Rachel Stone (S. 163–182) davor, die Transgression gesellschaftlicher Normen z.B. hinsichtlich Sexualität vorschnell als Ausgleich für einen wahrgenommenen Mangel an Männlichkeit zu lesen, und plädiert dafür, die Attraktivität des Priesteramts für eine heterogene Gruppe von teils auch ungeeigneten Männern sowie individuelle Kontexte und Entscheidungen zu berücksichtigen. Francesco Veronese (S. 183–217) widmet sich Reliquientranslationen in der Karolingerzeit als männlich codierter Praxis, von der Frauen sowie Männer ohne öffentliche Ämter weitestgehend ausgeschlossen waren. Mit den Überresten und Wirkungen frühma. Männer wie Männlichkeiten beschäftigt sich die Sektion „What Is Left of Masculinities“. Bonnie Effros (S. 221–234) untersucht die Rezeption und teils auch Instrumentalisierung der Legende des heiligen Martialis bis zum Anfang des 20. Jh. Flavia De Rubeis (S. 235–255) fragt auf Basis von autographen Unterfertigungen aus einem Kloster in den Abruzzen, inwiefern das Schreiben und die damit verbundene Selbstrepräsentation zwischen 868 und 1000 als männlich wahrgenommen wurden. Im Fokus von Giovanna Bianchi / Serena Viva (S. 257–280) stehen Grabstätten bei Vetricella in der Toskana im 9.–11. Jh. Die Vf. belegen erneut, dass die geschlechterhistorische Interpretation archäologischer Funde mit großer Sorgfalt angegangen werden muss. Der Band verzichtet auf Abstracts zu den Beiträgen, doch ein Personen- und Sachregister trägt zur schnelleren Erschließung der Inhalte bei. In der Gesamtschau handelt es sich um einen gelungenen Sammelband, der dem Anspruch, überlappende und teils konkurrierende Modelle und Praktiken von Männlichkeit sichtbar zu machen, auf vielfältiger Quellenbasis gerecht wird.

Eva-Maria Cersovsky