Katie Reid, Martianus Capella in the Late Middle Ages and Renaissance (Medieval and Renaissance Authors and Texts 28) Leiden / Boston 2024, Brill, VIII u. 231 S., 12 Abb., ISBN 978-90-04-68490-4, EUR 103. – An unbekanntem Ort (Karthago? Rom?) und zu einem unbekannten Zeitpunkt der Spätantike (vielleicht im späten 5. Jh., vielleicht aber auch früher) entstanden und trotz der Erwähnung bei Gregor von Tours als noster Martianus mit zunächst unklarer Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, wurde Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii ein zentraler Text der karolingischen Bildungsreformen, der mit dem enzyklopädischen Kompendium der Bücher 3–9 nicht nur einzelne Wissenschaften den Inhalten nach, sondern die artes liberales als festgefügtes Wissenssystem, aus dem das pädagogische Curriculum erwuchs, der Struktur nach vermittelt. Als Grundlagenwerk wurde Martianus Capella ab dem 9. Jh. in Hss. weit verbreitet, an Schulen für den artes-Unterricht verwendet, intensiv kommentiert und literarisch rezipiert, bis nach einer letzten Blüte der Kommentierung (u.a. im Umfeld der sogenannten Schule von Chartres) und literarisch fruchtbaren Rezeption (Alanus ab Insulis, Bernardus Silvestris) sein Stern infolge der wissenschaftlichen Spezialisierung ab dem Hoch-MA zu sinken begann und später infolge des aufkommenden Humanismus mit seiner Fokussierung auf ‘klassische’ Autoren ganz verlosch. So oder so ungefähr lautet die Meistererzählung der fortuna Martianus Capellas, die R. in ihrer komparatistischen Arbeit zur Rezeption in Spät-MA und Renaissance hinterfragen möchte (vgl. dazu das einleitende Kapitel S. 1–23). Gegenstand ist zunächst die literarische Verarbeitung der Rahmenhandlung (Bücher 1 und 2) von der Brautsuche Merkurs, Himmelsaufstieg und Apotheose der Philologie sowie der anschließenden Götterhochzeit in allegorischen Erzählungen dieser Zeit; Fragen der Überlieferung oder der Bedeutung Martianus Capellas als Wissenskompendium bzw. wissensvermittelnde Literatur nehmen einen nachgeordneten Platz ein. Der behandelte Zeitraum von 1300 bis zum Beginn des 17. Jh. ist im Aufbau der Untersuchung grob nach den drei Jahrhunderten gegliedert, in denen abwechselnd jeweils ein Kapitel die Entwicklung in Italien und eines diejenige außerhalb Italiens beleuchtet. Ausgangspunkt sind die „tre corone“ der italienischen Literatur (S. 24–56), v.a. Dante Alighieri, dessen Kenntnis von Martianus Capella im Gegensatz zu Petrarca und Boccaccio, die ihn ausdrücklich erwähnen, nicht belegt ist, von R. aber aufgrund motivischer Parallelen in der Gestaltung einer Einzelszene (Eintritt in die Höllenstadt Dis, Inferno 9) sowie der Gesamtstruktur der allegorischen Erzählung von Wanderung, kosmischem Aufstieg und mystischer Vereinigung/Hochzeit als wahrscheinlich angenommen wird. In der zeitgleichen englischsprachigen Literatur des 14. Jh. (S. 57–77) werden die Motive von Himmelsreise und mystischer Vermählung bei Geoffrey Chaucer und John Lydgate, die Martianus Capella als anerkannte Autorität referenzieren, dann eher satirisch umgedeutet oder negativ kontrastiert. Im italienischen Quattrocento (S. 78–106) erlebte Martianus Capella nicht nur einen ebenso quantitativen wie mit den illustrierten Prachtexemplaren für Lorenzo de’ Medici, Federico da Montefeltro und Matthias Corvinus künstlerischen Höhepunkt der Überlieferung, sondern dient bei Leon Battista Alberti und Francesco Colonna in der esoterischen Hypnerotomachia Poliphili erneut als Modell allegorischen Erzählens. In diesem sprachartifiziellen Werk finden copia und varietas Martianus Capellas Niederschlag, wenn Wörter eingeflochten werden, die zuvor einzig bei ihm verwendet sind. Nach der eher späten editio princeps (Vicenza 1499) erfuhr De nuptiis im Norden neue Wertschätzung als antike Autorität (S. 107–143). Das Grammatik-Buch (Buch 3) wurde z. B. 1500 und 1507/08 von den Humanisten Nikolaus Marschalk bzw. Johannes Rhagius Aesticampianus als Gegenentwurf zum scholastischen Unterricht herausgegeben und von letzterem auch kommentiert, wohingegen Johannes Dubravius verbreiteten Lesegewohnheiten und Publikumsinteresse folgend 1516 einen neuen, vor allem philosophisch ausgerichteten Kommentar zu den beiden Büchern der Rahmenhandlung verfasste. Die zweigeteilte Rezeption Martianus Capellas mit ihrem Interesse an der allegorischen Fabel ebenso wie an den Wissensinhalten der artes liberales blieb, während sich das Interesse im Italien des Cinquecento zunehmend auf mythologische Gesichtspunkte verengte (S. 144–177), im Norden auch später vorherrschend, wo sich noch so prominente Figuren wie Grotius, Lipsius oder Vossius mit ihm beschäftigten (S. 178–208). Auch wenn ein Rezensent nicht zur peniblen Fehlersuche neigt, ist als Caveat darauf hinzuweisen, dass dem Buch ein letzter Korrekturdurchgang gut getan hätte. Neben redaktionellen Fehlern, wie z.B. einem mehrzeiligen Zitat, das mit einer Fußnote endet, deren einziger Inhalt eben noch einmal dieses Zitat ist (S. 34), sind einige offensichtliche Fehler in lateinischen Stellen zu korrigieren. S. 11 ist zu lesen docta indoctis aggerans statt docta doctis aggerans; S. 15: Genus doctrinae figura est statt Genus doctrina figura est; S. 37: veris deum conspexerat subvolare Mercurium statt Mercuriam. Auch ist, wie bei einer solchen Einflussforschung kaum anders zu erwarten, gelegentlich die Gefahr der Überinterpretation gegeben – es ist Dante zuzutrauen, einen locus amoenus auch ohne Martianus Capellas Vorlage mit Worten wie E una melodia dolce correva per l’aere luminoso (vgl. S. 37) zu schildern! Insgesamt leistet R. jedoch mit ihrer breit angelegten Untersuchung einen sehr gelungenen Überblick über und eine wertvolle Neubewertung der späten Rezeption Martianus Capellas, die hoffentlich weitere Forschungen in diesem Bereich anregen wird.
B. P.