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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Marcel Bubert (Hg.), Aneignungen der Geschichte. Narrative Evidenzstrategien und politische Legitimation im europäischen Mittelalter, Köln 2024, Böhlau, 465 S., Abb., ISBN 978-3-412-52231-5, EUR 70. – Eine spätma. Miniatur mit der Darstellung der Taufe Chlodwigs ziert den Buchdeckel des aus einer Tagung in Münster im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ hervorgegangenen Sammelbands. Dieses Ereignis und seine Folgen haben bis heute und auf höchster Ebene – bei der EU selbst – einen epochalen Rang in der europäischen Geschichte und geben ein, vielleicht das Leitbild für die übergreifende Thematik durch die verschiedenen Räume und Zeiten, die der Band für das MA beleuchtet: die Aneignung von Geschichte im Sinn historischer Argumentation konkret zum Zweck politischer Legitimation. Sehr nützlich sind die reichhaltigen Quellen- und Literaturangaben, die zur weiteren, vertiefenden Beschäftigung mit den Themen der Beiträge anregen. Am Anfang stehen gleich drei Beiträge des Hg. B. (S. 9–89). Man darf ihm danken, dass er die ursprüngliche Idee einer Einleitung aufgegeben hat und in dieser Breite in die Vielfalt der „Evidenzpraktiken“ (Zitat mehrfach) einführt, die bis hin zu Strategien der Delegitimation reicht, wie er für Irland und Schottland um 1300 und deren Anfechtung englischer Herrschaftsansprüche exemplifiziert. Kenner der Quellengruppe Libelli de lite in der MGH-Abteilung Scriptores wird es freuen, dass B. den Reigen seiner erklärenden Beispiele mit einer Streitfrage im Kontext des sogenannten Investiturstreits eröffnet und überhaupt – das unterscheidet ihn von der Mehrzahl der folgenden Spezialbeiträge – auch Traktate, Fürstenspiegel etc. in den Blick nimmt, also nicht auf die Historiographie im engeren Sinn fokussiert. In einem seiner Beiträge wird auch schon deutlich, dass die Etablierung gelehrten Rechts im Hoch-MA einen Wandel in den Praktiken und Strategien der Aneignung von Geschichte zur Folge hatte. Rosamond McKitterick (S. 91–110) führt an drei frühma. Beispielen vor Augen, wie ergiebig die Beschäftigung mit Codices in deren zeitgeschichtlichem Kontext für die Kenntnis der Strategien der Begründung von Autorität auf dem Weg über die Vergegenwärtigung von Geschichte sein kann. Posthum gewährt der Beitrag der viel zu früh verstorbenen Alheydis Plassmann (S. 111–132) einen Einblick in den jüngsten Stand der Forschungen zu einem ihrer Schwerpunkte, den Herkunftserzählungen frühma. gentes, deren Klammer das „Bedürfnis nach Identitätsstiftung … im Kontext der Transformation der römischen Welt“ (S. 121) gewesen ist. Lex und canones in der historischen Beweisführung Gregors von Tours in dessen Auseinandersetzung mit König Chilperich I., dem Nero nostri temporis et Herodis (Hist. 6,46), stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Sven Meeder (S. 133–155). In das gälische Irland und konkret dessen Resistenz gegen die anglo-normannische Herrschaft führen die Beiträge von Katharine Simms (S. 157–173) und Patrick Wadden (S. 175–198), die hauptsächlich anhand von Epen und Sagen die Einflüsse von Geschichtsschreibung auf die Politik der irischen Handlungsträger (bis in das 17. Jh.!) bzw. die Einflüsse lokaler Aufzeichnungen und Traditionen auf die irische Geschichtsschreibung generell untersuchen. Sachlich und thematisch daran anknüpfend, wechselt Stephan Bruhn (S. 199–243) zur britischen Hauptinsel und zugleich zur Siegerperspektive, indem er Darstellung und Wertung König Harolds II., konzentriert auf die Umstände der Grablege und die Memoria, in der anglo-normannischen Geschichtsschreibung für die anderthalb Jahrhunderte nach Hastings untersucht, aber auch deren Reflex in der eher vermittelnden als gegenstehenden Vita Haroldi (1204/06) und den der Vita wiederum in der „Bewältigungsstrategie des 19. Jahrhunderts“ (S. 206). Einen reichen Fundus für die Fragestellung des Bandes bietet die Chronistik des Deutschen Ordens, was Andreas Bihrer (S. 245–278) anhand der Oberrheinischen Chronik und darin konkret für die Darstellung der Gründungsgeschichte des Ordens exemplifiziert: eine „Aneignung von Geschichte“ (S. 261). Im Unterschied zu dem königlichen ‘Großprojekt’ der Grandes Chroniques im 14. Jh. verfolgte das Papsttum in der schwierigen Zeit seines Exils in Avignon keine einheitliche Legitimationsstrategie über die Geschichtsschreibung, wie Jan-Hendryk de Boer (S. 279–311) vermittelt: Für die Berufung auf die Nachfolge Petri und die apostolische Sukzession brauchte man auch in der ‘Ferne’ keine Chroniken etc. Mit vergleichendem Ansatz arbeitet Roland Scheel (S. 313–376) in detaillierter Analyse zahlreicher, gut ausgewählter Beispiele für die frühe skandinavische Historiographie gleichsam als Wesenszug heraus, dass Geschichtskonstruktionen weit mehr von Konzepten und Strategien getragen wurden als von (den Inhalten) der Tradition selbst. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Rezeption Alexanders und derjenigen Konstantins in der byzantinischen Historiographie zur Begründung globaler Herrschaft analysiert und gewichtet Michael Grünbart (S. 377–408), bis hin zu Konstantins ‘Übernahme’ in die russische Zarenideologie. Gibt dort die Orthodoxie das religiöse Motiv, so steht das Bild der Muslime in der christlichen Geschichtsschreibung der Iberischen Halbinsel im Zentrum des Beitrags von Matthias Maser (S. 409–439), in einem chronologischen Durchgang von den ersten Reflexen in der Mitte des 13. bis an die Wende zum 17. Jh. An diesen bereits epochenübergreifenden Beitrag schließt sich dann die Zusammenfassung von Wolfram Drews (S. 441–465) an, die die Beiträge unter Aspekten wie Zugang und Methode, Quellencorpora und deren Spezifika, Formen der Geschichtskonstruktionen etc. gruppiert und strukturiert und auch Terminologiefragen nochmals aufgreift: zur politischen Legitimation als Leitgedanken und einender Klammer zugleich, darüber hinaus aber auch zu Nebenschauplätzen wie beispielsweise der Identitätsbildung, ein breites Bündel an Strategien, Spielarten und Formen durch verschiedene Räume, Zeiten und Schichten ma. Geschichte. Ein zweites Moment eint die Beiträge: die Beschränkung des Quellenspektrums (fast) ausschließlich auf die Historiographie. Mit Blick auf das Gemeinsame und vor allem auf den Umfang mag dies wohlbegründet sein, doch regen gerade die erzielten Ergebnisse dazu an, der Frage nach Aneignungen der Geschichte zur politischen Legitimation auch in anderen Quellengattungen – insbesondere natürlich den Urkunden – in ähnlich konzentrierter und tiefgehender Weise nachzugehen.

Thomas Bauer