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Matthew Gabriele, Between Prophecy and Apocalypse. The Burden of Sacred Time and the Making of History in Early Medieval Europe, Oxford 2024, Oxford Univ. Press, XI u. 146 S., Abb., ISBN 978-0-19-964255-7, USD 45. – Der Titel darf nicht trügen. Apokalypsen werden in der Regel als Offenbarungen verstanden, die dem Genre der Prophezeiungen zugeordnet sind (Beatus qui legit et audit verba prophetie huius, et servat ea, que in ea scripta sunt, Apoc. 1,3); daher ist es im ma. Westen üblich, Johannes, den Autor der biblischen Apokalypse, als Prophet zu nennen. Nach G. sind die beiden Begriffe jedoch gegeneinander abzugrenzen: Prophetie versus Apokalypse, „looking forwards versus looking backwards“ (S. 12). Die Prophetie wäre dann offen für die Zukunft, die Apokalyptik hingegen „comes across as inevitable because it can only be revealed in hindsight“ (ebd.). Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Im ersten skizziert der Vf. die Entstehung, im 4./5. Jh., einer „intellektuellen Struktur“, die auf der Konzeption der Geschichte als historia sacra beruht. Das würde einen Rückzug in die Vergangenheit und eine Verschlossenheit gegenüber der Zukunft der Welt bedeuten. Gerade so solle man Hieronymus („Put simply, spiritual over literal enabled Jerome to escape the future“, S. 30; „But what of the future? Jerome was not particularly interested, or if he was, he didn’t seem to think that the future could be discerned via exegesis“, S. 33) und Augustin verstehen. Auch für Augustin gälten allein Vergangenheit und Gegenwart – insofern es sich um eine Wiederholung von Ereignissen handelt, die bereits in der Heiligen Schrift beschrieben wurden. Dies ist die „Augustinian Atemporality“, gemäß der vom Vf. vorgeschlagenen originellen Definition. Seltsamerweise versäumt er es, eine grundlegende Passage anzuführen, die er zur Untermauerung seiner These hätte heranziehen können: die Zerstörung des apokalyptischen Millenniums durch Augustin (vgl. De civitate dei 20) und seine kontextuelle Ablehnung der Idee eines irdischen zukünftigen Reichs. Im Großen und Ganzen bietet der Vf. kurze Einblicke an, die manchmal kühne Gegenüberstellungen und einzigartige Aussagen enthalten. Um nur einen Punkt zu nennen, würde man gerne wissen, welche Elemente ihn dazu veranlasst haben, eine „parallel narrative and interpretive structure“ der Apokalypse des Johannes und des Pseudo-Methodius zu erkennen und zu behaupten, dass in den beiden Texten „Gog and Magog torment the Earth, are defeated, then return, then are defeated again“ (S. 36). Im zweiten Teil betrachtet G. den neuen intellektuellen Impuls, der das Karolingerreich insbesondere in der ersten Hälfte des 9. Jh. prägte, als biblische Ereignisse neu gelesen und aktualisiert wurden, um die Franken als neues auserwähltes Volk und ihre Herrscher als davidisches Geschlecht zu legitimieren. Der dritte Teil beleuchtet das allmähliche Aufkommen von Reformideen im 10. und 11. Jh. In der Nachfolge Haimos von Auxerre tauchten Intellektuelle auf, deren reformatorische – auf die Zukunft ausgerichtete und deswegen prophetische – Ideale neue klösterliche Erfahrungen wie Gorze und Cluny beflügelten (für den Aufbau der Arbeit wäre es nützlich gewesen, eher Hirsau, als Vorläufer der intellektuellen Bewegung des 12. Jh., zu betrachten). Die Arbeit ist reich an Verweisen auf die neueste Forschungsliteratur. Hinweise auf Primärquellen sind dagegen spärlich. Es handelt sich um einen anregenden ersten Entwurf, dessen entscheidende Passagen Schritt für Schritt anhand der Quellen geklärt, präzisiert und begründet werden sollten. In Ermangelung dessen bleiben die kreativen Definitionen wie im luftleeren Raum hängen; und die Wege der Argumentation in den Abschnitten, die sich als originell präsentieren, sind zu verkürzt und summarisch, um vollends zu überzeugen.

Gian Luca Potestà