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David L. d’Avray, Papal Jurisprudence, 385–1234. Social Origins and Medieval Reception of Canon Law, Cambridge 2022, Cambridge Univ. Press, XI u. 320 S., ISBN 978-1-108-47300-2, GBP 75. – Diese Studie verdient besondere Beachtung. D’A. setzt sich eindrucksvoll in einer Langzeitperspektive mit der Entwicklung päpstlicher Rechtsprechung auseinander, deren Schwerpunkte auf den „two ages of papal decretals“ (S. 1) im 4./5. Jh. sowie im 12./13. Jh. liegen. Er verfolgt unter anderem die These, dass die Päpste in beiden Fällen nachfrageorientiert auf soziale Veränderungen der Umwelt reagiert hätten. Dabei geht der Vf. chronologisch vor. Nach einem kurzen methodologischen Abschnitt zur Frage des Wandels zwischen Spätantike und Früh-MA sowie der damit verbundenen nach der Vergleichbarkeit über Epochengrenzen hinweg (S. 3–20) widmet sich d’A. ausführlich der Spätantike und dem Beginn der päpstlichen Jurisdiktion. Dafür stützt er sich sowohl auf seinen 2018 publizierten Forschungsrückblick zum spätantiken Papsttum (vgl. DA 75, 655) als auch auf die 2019 erschienene Quellenedition zu den frühen Dekretalen (vgl. DA 77, 759–762). Nach d’A. führte unter anderem die Ausdehnung der christlichen Bevölkerung und deren hohe Mobilität in Verbindung mit der Entwicklung verschiedener regionaler christlicher Subsysteme zu zahlreichen Unsicherheiten und dem Verlangen nach Vereinheitlichung (S. 21–34). Exemplarisch verdeutlicht der Vf. dies an den theologischen Diskussionen über die Gnade (S. 47–55), gebräuchlichen Riten (S. 56–64), einander überschneidenden Hierarchien (S. 65–73), dem Status von Klerikern und Mönchen (S. 74–86), der Wiederaufnahme von Häretikern (S. 87–95) und dem Umgang mit dem Pelagianismus (S. 96–105), bei denen er besonders den Versuch einer Integration der Subsysteme in ein Kirchensystem durch das Papsttum im westlichen Europa hervorhebt. Den Höhe- und Schlusspunkt dieser ersten Phase päpstlicher Jurisdiktion sieht der Vf. in Leo I., der in besonderer Weise frühere päpstliche Entscheidungen wiederholte und präzisierte (S. 106–119). Der Übergang vom ersten zum zweiten Dekretalenzeitalter war geprägt von einer Phase der „synthesis and compilation“ (S. 133), in der die päpstlichen Dekretalen und konziliaren Entscheidungen nun in Sammlungen zusammengestellt wurden. Die bedeutendsten Kanonessammlungen, wie die Dionysiana, Concordia canonum, Hibernensis oder Dacheriana, werden in Kap. 11–13 (S. 120–168) vorgestellt und anhand der quantitativen Überlieferung der päpstlichen Dekretalen in ein dreistufiges System eingeteilt. Gleichzeitig gelingt es dem Vf. aber auch, auf die Verbreitung, die Rezeption und den Bedeutungswandel aufmerksam zu machen, die die päpstlichen Dekretalen im Verlauf der Jahrhunderte erfuhren. Die Transformation der ma. Welt im 11. und 12. Jh. führte allerdings zu einer Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und spätantikem Kirchenrecht, die nach der papstgeschichtlichen Wende durch eine neue, vom Reformpapsttum ausgehende Legislative angepasst werden musste. Die zunächst noch einfachen Rechtsetzungen waren gefolgt von einer kreativen Phase, dem zweiten Dekretalenzeitalter, in dem die älteren Rechtstexte an die gegenwärtigen Zeitverhältnisse und Notwendigkeiten angepasst wurden. Dies unterstreicht der Vf. in den letzten drei Kapiteln mit Fallstudien zur Problematik der Bigamie (S. 204–214), zu Status und Rechten des niederen Klerus (S. 215–227) und den Bischofswahlen (S. 228–238). Ein fast zu knappes Fazit (S. 239–241) rundet eine durchdachte Studie ab, die zugunsten der großen Linien an manchen Stellen die gebotene Tiefe vermissen lässt, etwa hinsichtlich der bruchstückhaften Theorien über die Gründe für die papstgeschichtliche Wende (S. 173f.). Dem Analyseteil folgen vier Appendices mit Übersetzungen zu Dekretalen von Leo I. (S. 242–266), Gelasius I. (S. 267–272) und der revidierten Glossa ordinaria zum Decretum Gratiani (S. 273–299) sowie ein knapper Überblick über die zugrundeliegenden methodischen Konzepte (S. 300f.). Eine kurze Auswahlbiographie (S. 302–312), in der die für das Thema wichtigen Aufsätze von Rudolf Schieffer keine Nennung finden, und ein etwas dünner Index mit Orts- und Personennamen sowie Sachbegriffen (S. 313–320) beschließen einen insgesamt gelungenen Band, dessen Interpretationen eine Fülle an Anknüpfungspunkten bieten und der zum weiteren Nachdenken einlädt.

P. W.