DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Jörg W. Busch, Der Blick von 1080 auf 1077. Beobachtungen und Überlegungen zu den „Canossa-Erzählern“ Lampert, Berthold, Bruno und Bernold, Wiesbaden 2024, Jörg W. Busch, 130 S., ISBN 978-3-00-078341-8. – Der Band ist bereits der dritte, in dem der Vf. im Selbstverlag einer selbstbestimmten Leserschaft (und einigen wenigen Bibliotheken) bislang aus ganz unterschiedlichen Gründen unveröffentlichte Aufsätze zukommen lässt. Dieses Unterfangen ist unbedingt begrüßenswert, nicht allein, weil er damit lieber Bleibendes schafft als maritime Altersruhesitze subventioniert (um sein Schlusswort S. 130 aufzunehmen), sondern vielmehr, weil seine Betrachtungen immer zumindest Überlegenswertes, oftmals auch Überzeugendes zu zentralen Themen des frühen und hohen MA bieten. Der Vf. beweist die Fähigkeit, die stark beschrittenen Pfade der Forschung zu verlassen, zu Quellenaussagen zurückzukehren und aus einfach scheinenden Grundüberlegungen heraus neue Aspekte zu gewinnen. Im Mittelpunkt steht das Plädoyer, die vier „Großerzählungen“ der Hochphase des Investiturstreits, insbesondere den Bericht Lamperts von Hersfeld, von ihrem Abfassungszeitpunkt her zu betrachten. Verkürzt gesagt attestiert der Vf. allen Texten, dass sie mit dem Wissen um „das Scheitern von 1080“ (Tod des Gegenkönigs, Erhebung eines „Gegenpastes“) entstanden sind und in dessen Kenntnis sowie unter dessen Eindruck die Erinnerung auf die Jahre davor bewusst verformt haben; als Maßstab dient ihm das zweifelsfrei authentische iusiurandum des Jahres 1077 als einzige authentische Quelle (S. 40–59). Bemerkenswert ist die ausführliche und detaillierte Einbeziehung Lamperts, dessen Annalen bislang gerne gelesen werden als zeitgleiche Begleitung eines Geschehens mit offenem Ausgang. Den Eindruck der Synchronie erweckt Lampert durch verschiedene auktoriale Strategien, deutlich etwa im bewusst auf 1077 gesetzten offenen Ende (S. 20–22). Dass es sich hierbei um einen von mehreren Kunstgriffen eines „gewieften Erzählers“ handelt (so zusammenfassend das griffige Urteil, S. 72–78), macht B. durch weitere Beobachtungen wahrscheinlich: Mittels eines Vergleichs mit der in Konzeptfassung überlieferten Vita Lulli demonstriert er Lamperts kompilatorische Arbeitsweise, aus der eine durchkomponierte Werkanlage resultierte (S. 26–31); dies überträgt er auf die Annalen. Hinzu treten Beobachtungen zu Nomenklatur und Personenbewertung (S. 91–105) sowie Überlieferungsunstimmigkeiten (S. 82–91), all dies vor dem Hintergrund einer Reihe von Indizien dafür, dass Lampert wohl länger gelebt haben dürfte als zumeist angenommen (S. 32–40). Damit wäre ihm nach 1080 genügend Zeit geblieben für Konzeption, Anlage und Redaktion eines strategisch komponierten Werks. Gestützt wird diese Auffassung durch die Beobachtung, dass „der Akt von Canossa“ von mutmaßlich zeitgenössisch Schreibenden ansonsten praktisch nicht be- und vermerkt wurde (S. 105–124 mit Sammlung der 33 Zeugnisse). Das (in nicht nachweisbarem Maß fiktive) Sondergut Lamperts hätte dieser, sofern er nicht schon 1077 gleichsam „hellseherisch“ schrieb, als Negativzeichnung eines machtlosen Heinrich IV. dann nach 1080 in seine Erzählung eingebaut (S. 78f.), was sich wiederum im 19. Jh. als Leiterzählung durchsetzte und bis heute das Geschichtsbild formt. Konsequenzen für die Beurteilung gerade des „Canossagangs“ zu ziehen, weigert sich der Vf. ausdrücklich. Lieber porträtiert er sich in einer Art ostentativer Selbstverzwergung in der Rolle eines schlichten Quellenkritikers, fernab des „Titanenringens“ (S. 3) der Forschung. Die mit diesem Zitat nur angedeutete pikareske Attitüde eines Simplicius bestimmt den Duktus dieser wie einiger anderer Abhandlungen des Vf., dessen pointierter, persönlich gehaltener Stil ihm überdies immer wieder die Möglichkeit bietet, seine Distanz zu aktuellen Entwicklungen, (Sprach-)Moden und Denkarten inner- wie außerhalb der Wissenschaft Raum zu geben. Man mag dies unter prodesse et delectare verbuchen oder als fehl am Platz empfinden, mag Eigenheiten wie Dialektismen, selbstgeprägte Begriffe (in gehäuften Anführungszeichen resultierend) monieren oder als einprägsam schätzen, die offensive Kauzigkeit goutieren oder nicht; doch wird man sich als Forscher mit dem Inhalt des Gesagten ernsthaft auseinanderzusetzen haben und von dort aus weiterdenken müssen. Es mag der antimodernen Grundhaltung des Vf. zuwiderlaufen, doch ist damit: Fortschritt attestiert. – Man verzeihe das ceterum censeo des Rez.: Regestenleser und -nutzer wissen oder wüssten mehr.

Gerhard Lubich