DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

The Emergence of New Peoples and Polities in Europe, 1000–1300, ed. by Walter Pohl / Veronika Wieser / Francesco Borri (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 31 – Historiography and Identity 5) Turnhout 2022, Brepols, XIV u. 501 S., Abb., ISBN 978-2-503-58849-0, EUR 125. – Der Band geht zurück auf die Forschungsgruppe „Visions of Community (VISCOM)“, die 2011–2019 vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde. Im Zentrum steht die Frage nach Wechselwirkungen zwischen Geschichtsschreibung und Identitätsbildung der neuen Mächte, von „kingdoms, peoples, dynasties, churches, territories, and places“ (S. 5) in Nord-, Ostmittel- und Osteuropa sowie in den Regionen am Adriatischen Meer. Neben einer Einleitung von Walter Pohl / Veronika Wieser (S. 1–41) sowie einem abschließenden Resümee von Walter Pohl (S. 467–484) enthält der Band 18 Beiträge, die auf fünf nach geographischen und politischen Territorien gegliederte Sektionen verteilt sind. Zu Beginn der ersten Sektion weist Ian Wood, Adam of Bremen’s Use of Earlier History (S. 45–64), überzeugend nach, dass das vierte Buch der Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum erheblich durch die Sicht des dänischen Klerus geprägt wurde: Adam hat für die ethnographische Beschreibung Dänemarks, Schwedens und Norwegens sowie der paganen Riten, die dort praktiziert worden sein sollen, nicht nur schriftliche Quellen verwendet, sondern sich vor allem auf mündliche Erzählungen aus dem Umkreis des dänischen Hofs um König Sven Estridsson verlassen. – Sverre Bagge, National Identity in Scandinavian Chronicles (Saxo and Snorri) (S. 65–79), versteht die Konstruktion einer römischen bzw. prärömischen Vergangenheit in den Gesta Danorum und der Heimskringla für die Herrscherdynastien in Dänemark bzw. Norwegen und Island jeweils als Versuch, die eigene Unabhängigkeit zu propagieren. – Rosalind Bonté, Orkney, Óláfr Tryggvason, and the Conversion to Christianity (S. 81–116), zeigt einmal mehr, dass die Christianisierung auf Orkney keineswegs erst unter Olav Tryggvason stattgefunden hat, wie es eine wohl erst im 13. Jh. auf Island der Orkneyinga saga hinzugefügte Passage weismachen will. Schriftquellen und archäologische Funde deuten stattdessen auf wesentlich ältere christliche Traditionen hin, die bis ins 12. Jh. neben paganen Glaubensvorstellungen existierten. – Stefan Donecker / Peter Fraundorfer, Biblical Motifs and the Shaping of Ethnic Categories in the Chronicle of Henry of Livonia (S. 117–140), arbeiten heraus, wie Heinrich von Lettland sich für seine ethnographische Beschreibung von Balten und Finno-Ugriern in Ermangelung anderer Quellen der Bibel bediente. – Am Anfang der zweiten Sektion kritisiert Pavlína Rychterová, The Legenda Christiani, the Chronica Bohemorum, and the Bohemian Slavs (S. 143–177), die beschränkte Sichtweise im 19./20. Jh. auf die Christianslegende und die Chronik Cosmas’ von Prag als Quellen zur Frühzeit der tschechischen Nation, wodurch der Blick auf beide Werke in ihrer Gesamtheit und zahlreiche andere Themen, die darin verhandelt werden, verstellt worden sei. – Ähnliche Kritik äußert auch Jan Hasil, Space and Identity in the Chronica Bohemorum of Cosmas of Prague (S. 179–202), der teils als Ergänzung, teils im Kontrast zu archäologischen Befunden die von Cosmas geschilderten Landschaften, Peripherien und Zentren des ma. Böhmen untersucht. – Jan Klápště, Helmold of Bosau and our Reading of his Chronica Slavorum (S. 203–229), sieht das anfängliche Scheitern des Versuchs, die Abodriten zu christianisieren, in ihren vielen verschiedenen Stammesverbänden und unterschiedlichen lokalen Gottheiten begründet, deren religiöser Pluralismus, wie ihn Helmold schildert, zunächst unvereinbar mit einer monotheistischen Religion war, im Zuge der fortschreitenden Christianisierung jedoch nach und nach zurückgedrängt wurde. – Zbigniew Dalewski, Creating Dynastic Identity: Gallus Anonymus’s Chronicle (S. 231–249), legt überzeugend dar, dass das Bild einer ungebrochenen Sukzessionsfolge der königlichen Herrschaft vom Vater auf den Sohn, wie es der Gallus Anonymus zeichnet, dazu diente, die Herrschaft Bolesławs III. zu legitimieren – und dabei in krassem Gegensatz zur Realität stand, spalteten sich die Piasten doch bekanntlich in mehrere Herrschaftslinien auf. – Jacek Banaszkiewicz, ‘By the Crown of My Empire! The Things I Behold are Greater than I Had Been Led to Believe!’: The Narrative Pattern Sheba visits Salomon in Medieval Narratives (Gallusʼs Chronicle, Chronicon Salernitanum, and Pèlerinage de Charlemagne) (S. 251–269), wertet drei Quellen aus, in denen die alttestamentarische Erzählung vom Besuch der Königin von Saba bei König Salomon als Motivvorlage für das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Herrschaftssphären verwendet wurde. – Die dritte Sektion eröffnet Maximilian Diesenberger, Hungarian Origins and Carolingian Politics in Regino of Prümʼs Chronicle (S. 273–285), der plausibel macht, dass Regino die Ungarn als neue gens, die die Ordnung im Frankenreich bedrohen, gezielt in seinem Jahresbericht zu 889 einführte, um die instabile politische Situation nach dem Tod Karls III. noch fragiler erscheinen zu lassen. – Dániel Bagi, Us and Them: The Description of Foreigners and Indigenous Peoples in Master P.ʼs and Simon of Kézaʼs Gesta (Thirteenth Century) (S. 287–304), geht aufgrund der Schilderungen im Stephan dem Heiligen zugeschriebenen Libellus de institutione morum und der im 12. Jh. einsetzenden Wanderungsbewegungen in Ost- und Westeuropa von einer multiethnischen, multikulturellen und multilinguistischen Gesellschaft in Ungarn aus, über deren Zusammenleben der unbekannte Autor der Gesta Hungarorum und Simon von Kéza im 13. Jh. reflektierten. – Mit denselben Quellen arbeitet auch László Veszprémy, Christian Identity versus Heathendom: Hungarian Chroniclers Facing the Pagan/Nomadic Past and the Present (S. 305–318), der nach Erzählstrategien der Chronisten fragt, mit denen sie auf westliche Geschichtsschreiber reagierten, die die Ungarn nur allzu bereitwillig mit den Hunnen gleichsetzten und als barbarisches Steppenvolk charakterisierten. – Den Auftakt zur vierten Sektion macht Neven Budak, Circles of Identity: The Narratives of Thomas of Split and Domnius de Cranchis of Brač (S. 321–336). Sowohl der Archidiakon Thomas als auch Domnius de Cranchis hätten das römisch-antike Salona in ihren Geschichtswerken als Bezugspunkt genutzt, um angesichts der sich verändernden politischen Landschaft weiterhin die Unabhängigkeit und Rechtsstellung der dalmatischen Städte/Inseln Split und Brač zu bewahren. – Peter Štih, Grado as Aquileia Nova and Split as Salona Nova? Local Historiography and Local Identity (S. 337–365), zieht umfassendes Quellenmaterial (Historia Salonitana, Istoria Veneticorum, Translatio sancti Marci, Chronicon Gradense, Chronicon Altinate, Chronica de singulis patriarchis nove Aquileie) zu Rate, um herauszustellen, welche Rolle Geschichtsschreibung bei der Herausbildung lokaler Identität und Legitimierung bestehender Privilegien in der Kirchengeschichte von Grado und Split spielte. – Francesco Borri, Patria Venecia: John the Deacon’s Search for Venetian Origins (S. 367–387), nimmt sich Johannes Diaconus’ Kompilationstechnik in der Istoria Veneticorum vor. Neben einigen spätantiken und frühma. Quellen waren es vor allem Passagen aus der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus, die Johannes für die Konstruktion der Ursprünge Venedigs heranzog. – Aleksandar Uzelac, The ‘Dioclean Tradition’ in Serbian Literature of the Early Thirteenth Century (S. 389–411), stellt drei Biographien als Quellen zur Frühzeit des südslawischen Fürstentums Dioklitien vor. – Die fünfte und damit letzte Sektion leitet Donald Ostrowski, The Debate over Authorship on the Rus’ Primary Chronicle: Compilations, Redactions, and Urtexts (S. 415–448), ein. Er diskutiert die Textgenese der Nestorchronik und die Möglichkeit dreier Autoren (Nestor, Silvester und Vasilii). – Anderer Meinung ist Oleksiy Tolochko, Creating Time, Forging Identity, Building a State: The Primary Chronicle of Rus’ (S. 449–466), der Silvester als alleinigen Autor der Nestorchronik betrachtet, sich vor allem aber damit beschäftigt, wie im Prolog der Chronik eine Identität der Rus’ herausgebildet wird. – Ein gemischtes Personen-, Orts- und Werkregister beschließt den Band (S. 485–501). Neben der Frage nach dem Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Identitätsbildung, sei es nun durch Eigen- oder Fremdzuschreibungen und ihre Instrumentalisierung in späteren Jahrhunderten, behandeln die meisten Beiträge auch klassische Fragen der Quellenkritik: Fragen nach Autorschaft, Entstehungszeit und -kontext, nach Textgenese und möglichen Vorlagen. Der Band bietet somit nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Identitätsforschung, sondern grundsätzlich auch zur Geschichtsschreibung in Nord- und Osteuropa.

A. N.