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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Hanna Schäfer, Jean Aubrion l’escripvain. Lebensweg, historiografisches Schaffen und posthume Rezeption eines Metzer Bürgers im Spätmittelalter (Trierer Historische Forschungen 78) Trier 2023, Verlag für Geschichte und Kultur, 480 S., Abb., ISBN 978-3-945768-37-2, EUR 39,90. – Die Untersuchung der historiographischen Produktion in Metz, die lange Zeit brach lag, erlebt seit etwa 15 Jahren einen entscheidenden Aufschwung: Nach einem von Mireille Chazan und Gérard Nauroy herausgegebenen Sammelband im Jahr 2011, dem von Léonard Dauphant geleiteten Projekt Metz 1500 (https://metz1500.univ-lorraine. fr/s/metz-1500) und der hier besprochenen Diss. von Sch. (2020 an der Univ. Trier unter der Leitung von Lukas Clemens) sind weiter zu erwarten die bevorstehende Neuausgabe der Chronik des Curé de Saint-Eucaire durch die verstorbene Mireille Chazan und die Veröffentlichung der luxemburgischen Diss. von Antoine Lazzari über die Chronik von Jacques d’Esch. Jean Aubrions Chronik ist seit der Ausgabe von Lorédan Larchey (1857), der sie als Journal bezeichnete, einer der bekanntesten historischen Texte, aber weder seine Biographie noch sein Werk waren bisher Gegenstand einer eingehenden Untersuchung. Die Vf. beginnt mit einer Darstellung der Metzer Stadtgeschichte im 15. Jh. auf knapp 40 Seiten, die eine hervorragende Einführung in einen Zeitraum darstellt, der noch immer nicht Gegenstand einer umfassenden Synthese war, wie sie Jean Schneider 1950 für die beiden vorangegangenen Jahrhunderte vorgelegt hatte. Das nächste Kapitel ist der Biographie von Jehan Aubrion gewidmet: Seine facettenreiche Karriere und sein familiäres Umfeld nehmen etwa 50 Seiten ein, wobei die reichlich vorhandenen, aber selten erforschten Quellen optimal genutzt werden. Aubrion war Kaufmann, herausragendes Mitglied seiner Zunft, aber er war vor allem ein Escripvain, d. h. im Metzer Kontext viel mehr als ein einfacher Schreiber: Seine Kompetenzen waren in erster Linie die eines Experten des Metzer Rechts im Dienst verschiedener Auftraggeber, Klöster, Privatpersonen wie auch der Stadt. Anhand dieses gut dokumentierten Falls eröffnet die Vf. neue Perspektiven auf die Metzer Gesellschaft und insbesondere auf die Eliten, die viel komplexer und vielfältiger waren, als es die bisherigen Studien über die Patrizier (Paraiges) vermuten ließen. Im Mittelpunkt des Buchs steht natürlich die Untersuchung des Inhalts der Chronik: Die Vf. zeigt, wie Aubrion, der mehrere Jahrzehnte lang aus nächster zeitlicher Nähe zu den Ereignissen arbeitete, die Rolle der Paraiges in der Stadt durch ihre politische Tätigkeit wie auch durch die großen Ereignisse in ihrem Leben in den Vordergrund stellt; das Milieu, dem Aubrion selbst angehörte, angefangen bei seinem eigenen Leben und seinen Verwandten, ist dagegen fast abwesend, obwohl er selbst in einer Stadt, in der das Patriziat einen sehr starken demographischen Niedergang erlebte, zu den neuen Eliten gehörte. Erst dann präsentiert Sch. die autographe Hs. der Chronik (Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 3378): Ihre genaue kodikologische Analyse zeigt, dass Aubrion seine Chronik ab 1465 den Ereignissen entlang verfasste und erst nach 1470 eine Synthese der Metzer Geschichte der drei vorangegangenen Jahrhunderte anhand von drei bereits existierenden Chroniken kopierte oder ausarbeitete. Erst a posteriori stellt sich das Journal also als eine Fortsetzung dieser historiographischen Tradition dar. Es wäre sicherlich sinnvoller gewesen, Aubrions Text schon früher im Buch in die Kontinuität dieser entscheidenden Tradition einzuordnen, auch wenn er seine Vorgänger erst nach dem Beginn seiner eigenen historischen Arbeit kopiert; die Analyse liefert immerhin entscheidende Informationen über Aubrions Arbeitsmethode. Das letzte Kapitel zur Rezeption des Journals (u. a. durch seinen Neffen Pierre Aubrion, der die Chronik bis 1512 fortführte) zeigt, wie es sofort von anderen geschichtsinteressierten Metzern genutzt wurde, oft direkt aus der Originalhs., aber auch durch Kopierarbeit. Die Arbeit bietet einen breiten und tiefen Einblick in einen äußerst wichtigen und wenig bekannten Text, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Historiker von Metz sie nutzen werden, um die hier gewonnenen Informationen fundierter zu verwerten. Das Interesse des Buchs geht jedoch weit darüber hinaus: Zur städtischen Gesellschaft zwischen Patriziat und Geld- und Wissenseliten, zum sozialen Umfeld der Rechtsexperten, die die Escripvains waren, und damit zum Stellenwert des Rechts in der Metzer Gesellschaft, zum Reichtum und zur Vielfalt der schriftlichen Praxis in Metz bietet es besonders anregende Perspektiven, die zeigen, wie fruchtbar die Beschäftigung mit der Metzer Geschichte im Spät-MA sein könnte, wenn sie Forscher finden würde, die sie vorantreiben.

Dominique Adrian