Loyauté et trahison dans les pays bourguignons et voisins (XIVe–XVIe siècles), sous la direction de Alain Marchandisse / Gilles Docquier (Publication du Centre européen d’Études bourguignonnes, XIVe–XVIe s., 62) Lausanne 2022, Centre européen d’Études bourguignonnes, XX u. 257 S., 9 Abb., ISBN 978-2-8399-3707-8, EUR 30. – Die Beiträge hätten 2021 auf einer Jahrestagung an der Univ. Basel präsentiert werden sollen, was aufgrund der COVID-19-Pandemie verunmöglicht wurde. Zumindest die Veröffentlichung in schriftlicher Form ging gemäß den Hg. ohne Verzögerung vonstatten. Die ausschließlich dem MA gewidmeten Beiträge beginnen Rudi Beaulant / Quentin Verreycken (S. 5–20) mit einer Untersuchung der Lettres de rémission (Erlassbriefe) der burgundischen Herzöge, einer essenziellen Quellengattung für die Rekonstruktion von Kriminalität im MA. Wie die Vf. herausstellen, ist Verrat als politisches Verbrechen wenig erforscht und in den Briefen aus burgundischen Archiven auch verhältnismäßig wenig zu fassen. Lucie Jardot (S. 21–38) widmet sich den burgundischen Herzoginnen als Trägerinnen von Loyalität gegenüber ihren Ehemännern – ein Konzept, das sie als gute Fürstinnen auch den herzoglichen Untertanen zu vermitteln hatten. Laurent Olivier (S. 39–53) thematisiert den Umgang Herzog Philipps des Kühnen mit dem rebellischen Herrn Bruno I. von Rappoltstein auf Grundlage von bisher nicht veröffentlichtem Archivmaterial und knüpft an den Forschungsdiskurs zu spätma. Geiseln an. Besonders zu würdigen ist die umfangreiche Studie von Bertrand Schnerb (S. 55–110) zur Rolle der sekundären Akteure im Bürgerkrieg der Armagnacs und Bourguignons. Sie besticht durch eine prosopographische Aufarbeitung der aufständischen Ritter, Junker und verarmten Adligen, eine tabellarische Aufstellung zum Verbleib dieser Akteure und die neufranzösische Übersetzung von drei ausgewählten Erlassbriefen aus dem königlichen Register. Ebenfalls einen prosopographischen Zugang wählt Cyrille Chatellain (S. 111–127) mit seinem Beitrag zur Rolle der Bürgermeister und Schöffen von Amiens beim am 2. Februar 1471 erfolgten Übertritt der Stadt auf die Seite des französischen Königs im Konflikt mit Herzog Karl dem Kühnen. Pierre Brugnon (S. 129–149) befasst sich mit dem Fall von Louis de La Chambre, dem Vizegrafen von Maurienne, der in den letzten Jahrzehnten des 15. Jh. immer wieder gegen die teilweise minderjährigen Herzöge von Savoyen aufbegehrte und für den piemontesischen Chronisten Juvénal d’Acquin zum prototypischen Verräter wurde. Briefliche Quellen aus der Zeit zwischen 1481 und 1491 suggerieren jedoch eher ein taktisches Agieren des Vizegrafen in Zeiten der herrschaftlichen Krise. Clara Kalogérakis (S. 151–166) bietet eine Relektüre der Quellen zur Rolle Johannas von Kastilien, der Gemahlin Erzherzog Philipps des Schönen, bei der Etablierung der Habsburgerherrschaft in Aragòn und Kastilien und betont das ausgleichende Wirken der Fürstin. Christiane Raynaud (S. 203–222) behandelt die Darstellung der Herrschaft des französischen Königs Johann II. des Guten in der Abschrift Paris, Bibl. nationale, fr. 2813, der Grandes Chroniques de France. Eine Analyse von sechs Miniaturen lässt ein Bemühen König Karls V. erkennen, die Herrschaft seines Vaters zu legitimieren. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Loyalität und Verrat unternimmt Matthieu Marchal (S. 223–237) anhand des burgundischen Prosaromans Florence de Rome, in dem Loyalität als ethisches, soziales und politisches Ideal und Verrat als Laster präsentiert werden. Elena Koroleva (S. 239–257) beschließt den Band mit einer Studie zu den bildlichen Darstellungen von Verrat in der herzoglichen Hs. Bruxelles, Bibl. Royale, Ms. 9231, der Fleur des Histoires von Jean Mansel aus den 1450er Jahren. Hier zieht sich das Thema des Verrats wie ein roter Faden durch das ikonographische Programm. Eine Gesamtbeurteilung des Bandes ist schwierig, da die Beiträge sehr heterogen sind und eine zusammenfassende Synthese fehlt. Dass das Thema Verrat im Herzogtum Burgund vor allem für das 15. Jh. schon ausgiebig erforscht wurde, bringen einige Vf. zur Sprache. Der Band erschließt nichtedierte Quellenbestände und bietet Anleitung für weiterführende prosopographische Arbeiten.
Johannes Luther