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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Timofei V. Guimon, Historical Writing of Early Rus (c. 1000 – c. 1400) in a Comparative Perspective (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 71) Leiden / Boston 2021, Brill, 2021, XV u. 477 S., Abb., ISBN 978-90-04-42692-4 (hardback), EUR 150; 978-90-04-33559-2 (e-book). – Das Buch ist ein Meilenstein der Forschung, die in der jüngeren Zeit versucht hat, die Erforschung der ältesten Chroniken des ostslawischen Raums auf eine neue Basis zu stellen. Der zeitliche Ansatz ist bewusst offen gewählt, von etwa 1000, der möglichen Entstehungszeit der „ältesten Erzählung“, die ihrerseits bei der Abfassung der Nestorchronik (vollendet 1110–1117) zugrundegelegen haben dürfte, bis etwa 1400. G. ist bestens vertraut mit den Arbeiten russischer und ukrainischer Historiker, kennt aber auch die angelsächsische Forschung gut. Mit älteren und neueren Thesen setzt er sich gründlich auseinander, nicht ohne wiederholt darauf hinzuweisen, dass viele von ihnen – darunter auch seine eigenen – auf Hypothesen gründen. Sein Ziel ist, „to compare the entire corpus of the early Rus forms of historical writing with a corpus of such texts produced in another country during a comparable period“ (S. 71), und zwar in England. Freilich wäre ein Vergleich mit den unmittelbaren Nachbarn der Rus’ mindestens ebenso interessant gewesen, insbesondere mit Böhmen oder Polen, aus denen ebenfalls ein Corpus von historischen Schriften aus dem 11.–14. Jh. erhalten ist. Kapitel 1 präsentiert einen umfassenden Überblick über die erhaltenen historischen Schriften der alten Rus’. Dort finden sich unter der Rubrik „Versuche, eine nicht-annalistische Geschichte der Rus’ zu schreiben“ Texte sehr verschiedener Art versammelt. Während die galizisch-wolhynische Chronik (S. 55) und der Bericht über die Blendung des Wasilko von Terebowl (S. 54f.) historisch-erzählende Texte sind, gehört die Predigt über Gesetz und Gnade des Metropoliten Hilarion (S. 53) zur pastoralen Literatur. Sein Ziel ist es, dem russischen Volk, „Arbeiter der elften Stunde“ wegen seiner späten Christianisierung, zu zeigen, dass es in nichts hinter anderen christlichen Völkern zurückstehe. Die Informationen über Großfürst Wladimir, den Urheber dieser Christianisierung, die Hilarion bietet, stehen ganz im Dienst dieses erbaulichen Ziels. Die Geschichte des Kiewer Höhlenklosters (S. 54), das Leben des Alexander Newski (S. 57), die Geschichte des Daumantas und die Erzählung von Leben und Tod des Großfürsten Dmitrij Iwanowitsch (S. 58) gehören zur Hagiographie. Dass alle diese Erzählungen auch in die Annalen aufgenommen wurden und dort manchmal historisch zuverlässigere Einträge ersetzt oder ergänzt haben, zeigt die Durchlässigkeit zwischen den Genres. In Kapitel 2 geht es vor allem um die Überlieferung der Nestorchronik (S. 96 u. 98), aber auch um eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte dieses Texts. Lässt sich die „älteste Erzählung“ rekonstruieren und datieren (S. 111)? Fest steht, dass es sich um eine nichtannalistische Erzählung handelte, in die erst später Jahreszahlen eingefügt wurden. G. überprüft die bisherigen, disparaten Deutungen gründlich und vermutet, dass das historische Material sich allmählich geformt hat durch eine Ansammlung vieler verschiedener Elemente (S. 144): Etwa 995/96, kurz nach der Taufe der Rus’ (988/89) und der Weihe der Sophienkathedrale in Kiew, entstand ein Text zum Preis der großen Taten Großfürst Wladimirs. Später verfasste der Kathedralklerus kurze annalistische Notizen, vor allem nekrologischer Art, bis mindestens 1043. Dann wurde gegen 1054, um das Todesjahr Jaroslaws des Weisen, des Sohns und Nachfolgers Wladimirs, die „älteste Erzählung“ niedergeschrieben, die als fortlaufende Erzählung die Taten der Fürsten der Rus’ von Rurik bis Jaroslaw berichtete. In der zweiten Hälfte des 11. Jh. vereinten schließlich die Mönche des Höhlenklosters alle diese Elemente, zerteilten den Text in annalistische Einträge und führten die Erzählung weiter. In dieser Fortsetzung lassen sich einzelne Abschnitte identifizieren, die gut mit den Amtszeiten der Äbte des Höhlenklosters harmonieren, soweit diese bekannt sind (S. 294f.). Kapitel 3 befasst sich mit Nowgorod und damit mit dem zweiten großen Zentrum historischer Erinnerung der Rus’, der „nördlichen Hauptstadt“ der Rurikiden (S. 171). Wie in Kiew sind die Anfänge hier zaghaft. Man kennt kurze annalistische Notizen aus den Jahren 1045–1077, dann eine hybride Chronik aus den 1090er-Jahren, die bis zum Eintrag für 1016 die Kiewer Chronik vollständig übernimmt, sie in den Folgejahren stark kürzt und dafür mit kurzen Nowgoroder Notizen ergänzt. Um 1090 gab es außerdem schon eine erste Liste der Fürsten von Kiew und Nowgorod und der ersten Bischöfe der Stadt (S. 259). Regelmäßig geführte (erz-)bischöfliche Annalen kann man seit 1095 oder 1115 feststellen, sie reichen bis ins 15. Jh. (S. 181 u. 203). Kapitel 4 verfolgt zwei Ziele: Einerseits geht es um die Rezeption und die Rezipienten dieser Geschichtsschreibung. Was war ihr Ziel, wer waren die Auftraggeber, wie wurden die Chroniken aktualisiert und kopiert, in welcher Beziehung stehen sie zu Dokumenten mit Rechtskraft? Zum Vergleich nutzt G. die Arbeiten von I. Garipzanov (2011) und A. Gransden (1974, vgl. DA 33, 242f.), während man B. Guenée, Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval (1980), vermisst. Außerdem untersucht G. die Fortsetzungen der Nestorchronik aus Kiew und Wladimir und geht ausführlich auf unterschiedliche Versionen der Erzählung ein, wie man sie für die Jahre 1130–1140 beobachten kann. Letztlich kann man den Chroniken verschiedene Funktionen zuschreiben, die sie miteinander kombinieren: „political propaganda, a record of political precedents, a pious reading, a record of dates needed for liturgy, and so on“ (S. 285). Für die wichtigste hält G. die Schaffung von Präzedenzfällen, wobei dieser Terminus verstanden werden sollte „not in narrow, juridical, but in a wider sense: as any event knowledge of which can be useful in future“ (S. 388).

Pierre Gonneau (Übers. V. L.)