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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

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Jonathan R. Lyon, Corruption, Protection and Justice in Medieval Europe. A Thousand-Year History, Cambridge 2023, Cambridge Univ. Press, XX u. 417 S., Abb., ISBN 978-1-316-51374-3. – Leider erfasst der Titel nicht vollständig die Stärken dieses Werkes. Es geht dem Vf. nicht um eine Beschreibung von Missständen, sondern darum, wie die Erzählungen um diese Missstände konstruiert wurden. Im Zentrum der Studie steht das Konzept der Vogtei, das als analytisches Werkzeug genutzt wird, um die Geschichte der Gewalt zu beleuchten – ein zentrales Thema in den Debatten um die sogenannte feudale Revolution. Der Vf. strebt deutlich danach, sich von einer teleologischen Perspektive zu lösen, die das MA als eine Zeit des Übergangs von gewalttätigem Chaos zu einem geordneten Staat versteht. Stattdessen schlägt er eine Deutung der Quellen vor, die die Epoche als eine Zeit von „a lot of folks ... wrassling round“ (S. 1) versteht. Die Geschichte wird hier nicht als lineare Entwicklung – weder von Schlecht zu Gut noch umgekehrt – präsentiert, sondern als ein nuancenreicher Prozess. Das Werk untersucht die Gründe für die Entstehung der Vogtei und ihren Aufstieg, ihre Entwicklung, ihren Niedergang und ihr Fortbestehen bis ins Spät-MA und die frühe Neuzeit. Es ist in drei Abschnitte unterteilt, die die Entwicklung von den Anfängen bis ins Spät-MA nachzeichnen. Der erste Abschnitt befasst sich mit der frühen Geschichte der Vögte, beginnend mit ihrem Auftreten in den Grundherrschaften des 9. Jh. und ihrer zunehmenden Aristokratisierung im 10. Jh. Besonders bemerkenswert ist in diesem Abschnitt die Beobachtung, dass die Vogtei zunächst als positive Institution wahrgenommen wurde, die zum Schutz der Kirchengüter beitrug, und Beschwerden über Missstände relativ selten waren. Im zweiten Teil, der den Zeitraum von 900 bis 1250 abdeckt, zeigt sich dagegen eine deutliche Transformation der Vogtei. Sie wurde erblich und zunehmend als ein Recht betrachtet, das dem Vogt beträchtliche Vorteile verschaffte. Vögte, häufig aus der lokalen Elite stammend, werden als aggressive Gesetzesvollstrecker dargestellt, die primär von Eigeninteresse geleitet waren. Diese Entwicklung führte zu wachsender Kritik und einer veränderten Wahrnehmung der Vogtei selbst. Der Vf. analysiert jedoch sorgfältig die Konstruktion dieses negativen Narrativs und zeigt nicht nur Vorteile der Vogtei auf, sondern auch die Strategien, mit denen kirchliche Gemeinschaften gegen übergriffige Vögte vorgingen. Diese umfassten unter anderem die Fälschung von Urkunden oder Appelle an die päpstliche Autorität. Ab Kapitel 10 untersucht der Vf. die Kontinuität der Vogtei über das 13. Jh. hinaus. Während sich viele Forscher auf die „Entvogtung“ konzentrieren, geht der Vf. einen anderen Weg und zeigt, dass insbesondere deutsche Herrscher den Begriff der Vogtei auch im 14. und 15. Jh. weiterhin für ihre politischen Zwecke nutzten. Einige Missbräuche von Vögten lassen sich bis ins 18. Jh. feststellen. Während Forderungen nach Gerechtigkeit und Schutz im Zusammenhang mit der Vogtei wiederkehrende Themen sind, besagt die zentrale These L.s, dass auch die Vorwürfe des Fehlverhaltens, die gegen Vögte erhoben wurden, eine vertraute Konstante darstellen. Dieses Gedankenspiel ist provokativ, und der Vf. beherrscht seine Quellen meisterhaft, um diese These zu untermauern. Dennoch bleibt die Frage offen, ob es sich tatsächlich um eine tausendjährige Geschichte der Korruption handelt oder vielmehr um eine Idee von Korruption und um verschiedene im Lauf der Zeit konstruierte Narrative. Die Kontinuität der Vogtei vom MA bis in spätere Perioden steht in starkem Kontrast zu einer Geschichte des „wrassling round“ der Akteure. Der Vf. bringt Struktur in eine Erzählung, die oft als unstrukturiert betrachtet wird. In diesem Sinn liegt das wahre Verdienst des Werks, neben seiner Bedeutung als neue Referenz zur Geschichte der europäischen Vogtei, darin, aufzuzeigen, wie das Narrativ um die Vogtei konstruiert und über die Zeit aufrechterhalten wurde. Das Buch bietet nicht nur eine neue Perspektive auf die Vogtei im 12. Jh., sondern liefert auch eine kritische Analyse darüber, wie Konzepte nicht nur durch die Praxis, sondern auch durch die Perspektive derjenigen geprägt werden, die sie betrachten.

Niels Fieremans