Visionen und ihre Kontexte. Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert), hg. von Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht (Beiträge zur Hagiographie 25) Stuttgart 2023, Franz Steiner Verlag, 446 S., 13 farbige Abb., ISBN 978-3-515-13414-9, EUR 74. – Unter den etwas abgehoben klingenden Kategorien des Gesamttitels sind 16 Beiträge einer zunächst digital veranstalteten Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart von 2021 versammelt zu ma. und frühneuzeitlichen Jenseitsvisionen bzw. „Jenseitsreisen“. Die einzelnen Beiträge umkreisen also eine im MA sehr beliebte Erzähltradition, deren Resonanz und Vielfalt im Rezeptionsprozess im Vordergrund steht, während allerdings die für die Nachwelt literarisch dominante Variante etwa in Dantes Göttlicher Komödie außer Acht gelassen wird. Andreas Bihrer / Julia Weitbrecht, Visionen und ihre Kontexte. Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung (12.–17. Jahrhundert) (S. 13–21), würdigen einführend das vor allem von Peter Dinzelbacher seit den 1980er Jahren wiederbelebte Interesse an den Jenseitsvisionen (vgl. etwa DA 39, 344f.), führen aber die mentalitätsgeschichtliche Sicht („Angstkultur des MA“) weiter in eine „Verbindung von hermeneutischen, überlieferungs- und medienhistorischen Fragen“ und betonen die medialen Umformungen der Berichte und ihre Überlieferungszusammenhänge. – Zum Themenkreis „Transzendente Autorisierung in Jenseitsreisen und -visionen“ sind folgende Beiträge zusammengestellt: Hedwig Röckelein, Strategien der Authentisierung, der Autorisierung und der Historisierung hochmittelalterlicher Jenseitsvisionen (S. 25–41), arbeitet aus reicher Sachkenntnis einige Grundlinien im komplizierten Rezeptionsprozess der Visionen heraus, die oft von illitteraten Personen „geschaut“, aber durch Kleriker erst niedergeschrieben und vermittelt wurden, zunächst durch Prüfung auf Rechtgläubigkeit, dann aber durch literarische Strukturierung mittels der narrativen Techniken der abbreviatio, extensio und interpolatio. Eigens wird der Sonderfall des Otloh von St. Emmeram geschildert, der seine Visionen selbst verschriftlichte und durch sein „Gewissen“ legitimierte. – Andreas Bihrer, Ritter und Bauern auf Jenseitsreise. Laien als Visionäre im Hochmittelalter (S. 43–78), untersucht, gestützt auf eigene Forschungsbeiträge, die Soziologie der Visionäre, kritisiert dabei die gängigen Klischees einer Drei-Stände-Gesellschaft und relativiert auch die These, nach der im 12. Jh. ein jäher Anstieg laikaler Visionäre zu beobachten sei, während bis dahin überwiegend Mönche auf diesem Feld hervorgetreten seien, dann aber nach 1200 laikale Visionäre wieder deutlich weniger geworden seien. Er differenziert seine Thesen vor allem an den Beispielen der Visio Tnugdali, des Ritters Owein im Purgatorium Patricii, der Visio Alberici, des Ritters Heinrich von Ahorn, der Visio Ailsi, der Narracio de visione Walteri, der Visio cuiusdam militis in Britannia, der Visio Thurkilli, aber auch der Visio Godeschalci. Die Berichte als Zeugnisse für eine hochma. Laienfrömmigkeit heranzuziehen, sei problematisch, da hinter allem in der Regel monastische Redaktoren stehen, die ihrem eigenen Stand spirituelle Vorbilder liefern wollten. – Karolin Künzel, Derweil im Diesseits. Der Leib des Visionärs in der Rahmenerzählung von Jenseitsreiseberichten (S. 79–103), interpretiert die teilweise breiten Schilderungen der beobachteten körperlichen Zustände der Visionäre während der seelischen Jenseitsreise als „Authentisierungsmechanismen“ der jeweiligen Redakteure an den Beispielen des jungen englischen Visionärs Orm, des Edmund von Eynsham und der Visio Thurkilli. – Rike Szill, Visionskonspirationen. Das Scheitern von Transzendenzerfahrungen im ‘Timarion’ (S. 105–144, 1 Abb.), stellt den Jenseitsdialog aus Byzanz vor, in dem der Protagonist von einem buchstäblichen Höllenritt auf seiner Rückreise vom Demetriusfest in Thessaloniki nach Konstantinopel seinem skeptischen Freund Kylion erzählt, will den Text nicht (nur) als Satire werten und ordnet ihn ein in die Auseinandersetzung zwischen der Westkirche, die auf dem 2. Konzil von Lyon das „Fegefeuer“ als dritten Jenseitsort zur Reinigung der Seelen definiert hatte, und der Ostkirche, die lange widersprechende Vorstellungen vom postmortalen Zustand der Seelen zugelassen hat. Das dabei einschlägige Exzerpt des Textes wird als Anhang ediert (Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. theol. gr. 222). – Die zweite Sektion ist überschrieben: „Kodifizierung von Visionen in Sammelhandschriften und im Frühdruck“: Maximilian Benz, Vision und Devotion. Zu Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Cod. 979 (S. 173–186), lenkt die Aufmerksamkeit auf diesen Codex aus der Kartause Allerengelberg im Vinschgau, der mehrere Übersetzungen des Kartäusermönchs Heinrich Haller enthält und Texte zusammenstellt, die zur Reflexion über die letzten Dinge anregen wollen und über die genuin kartäusischen Ansätze hinaus schließlich in das Programm der Devotio moderna münden. – Julia Weitbrecht, Vor der Erlösung. Höllenangst und Heilsgeschichte in Lazaruslegende und ‘Visio Lazari’ (S. 187–206), geht vom johanneischen Bericht der Auferweckung des toten Lazarus aus (Joh. 11,1–44), der den späteren Kommentatoren Anlass bot, darüber nachzusinnen, was mit Lazarus in den vier Tagen geschah, in denen er tot im Grab lag. Der descensus ad inferos des Lazarus als Grenzgänger zwischen Leben und Tod bot den Ansatz nicht nur für die Vita Lazari, sondern vor allem für die mittelhochdeutsche Visio Lazari. Danach fand Lazarus die alttestamentlichen Väter noch im sogenannten Limbus vor, weil er dorthin ja noch vor der Erlösungstat Christi blicken konnte. – Gia Toussaint, Gebet, Gesicht, Antlitz. Wahrnehmungen des Antlitzes Christi in einem spätmittelalterlichen Gebetbuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen (S. 207–231, 6 Abb.), deutet ein reich bebildertes privates Gebetbuch (Hildesheim, Dombibl., MS J 29, mit Kolophon von 1478) aus dem Besitz der Nonne Winheid als praktische Anleitung zur mystischen Versenkung im Vollzug der Liturgie der Osterzeit. Da mehrere solcher para-liturgischer Gebetbücher aus Medingen aus dieser Zeit vorhanden sind, darf man dort eine regelrechte „Schule der mystischen Spiritualität“ (S. 229) vermuten. – Patrick Nehr-Baseler, Zwischen Heilsungewissheit, Hoffnungsgewissheit und Sozialkritik. Die frühneuhochdeutschen Übersetzungen C und D der ‘Visio Tnugdali’ im Fassungsvergleich (S. 233–259), sieht die verschiedenen Fassungen der sehr oft überlieferten Jenseitsreise in einer neuen Perspektive: Während C auf „eine erhebliche Verinnerlichung des Konversionsprozesses“ des Visionärs abhebt, liegt der Fassung D eine starke Sozialkritik am Herzen. Eine große Wirkung lässt sich an den Frühdrucken ablesen. Zwischen 1473 und 1521 könnten deutlich über 10.000 Exemplare des Tundalus unter die Leser gebracht worden sein, „wobei nur ein Bruchteil davon die Fassung C ausmachen würde (ca. 400–600)“ (S. 251). – Ein weiterer Abschnitt unter der Überschrift „Offenbarung und Authentisierung in der Hagiographie“ leuchtet einen Bereich aus, der nicht unbedingt mit Jenseitsreisen zu tun hat, aber immerhin auch eine „transzendente Welt“ in die säkulare vermitteln wollte: Sarah-Christin Schröder, Von Zeit und Heiligkeit. Zur Konstruktion und Vermittlung von Heiligkeit im eschatologischen Kontext der ‘Vita sancti Martini’ (S. 263–295), liest aus explizit transzendenten Elementen in der Martins-Vita (Christuserscheinung nach der Mantelteilung, Tod und Auferweckung eines Katechumenen und explizite Rekurse auf die Endzeit) die ganze Vita als in einem eschatologischen Horizont verfasst, den auch die Rezipienten teilten. – Daniel Eder, Der abwesende Bischof. Überlegungen zur Funktion des Wechselspiels von Vision und Narration in der Severin-Legende (S. 297–322), handelt von Erzähltechniken der Legende des dritten Kölner Bischofs Severin († wohl um 400?), der den letzten Teil seines Lebens als Bischof in Bordeaux verbracht haben soll und nach seinem Tod von Köln als Stadtheiliger beansprucht wurde. – Tanja Mattern, Authentisierung durch Offenbarung – Authentisierung von Offenbarung. Elisabeth von Schönau, die Kölner ‘Reliquienfunde’ und die Legende der heiligen Ursula (S. 322–348): Das bei der Kölner Stadterweiterung Anfang des 12. Jh. entdeckte spätantike Gräberfeld ließ sich nicht bruchlos in die schon etablierte Verehrung der heiligen Ursula und ihrer 11.000 Gefährtinnen einfügen, weswegen die seherisch begabte Nonne Elisabeth um Authentifizierung der Reliquien und der darüber angelegten Tituli im Codex Thioderici gebeten wurde. In ihrem Liber revelationum verschriftlichte sie unter Beihilfe ihres Bruders Ekbert ihre diesbezüglichen Visionen. M. sieht darin eine Art win-win-Situation: Durch die Visionen wurden die Reliquien authentifiziert – und umgekehrt! – Ein letzter Abschnitt weitet den Blick auf „Transzendente Autorisierung in politischen Visionen“: Uta Kleine, Doppelgesichte. Medialitäten und Deutungshorizonte mittelalterlicher Träume an einem Beispiel des 12. Jahrhunderts (Johannes von Worcester, ‘Chronicon ex chronicis’, ca. 1140) (S. 351–391, 3 Abb.), behandelt den Traum des englischen Königs Heinrich I., in dem ihn Bauern, Ritter und Geistliche bedrohen, bildlich dargestellt in der Hs. Oxford, Corpus Christi College, 157. Ein erster Abschnitt informiert sehr konzise über die antiken und ma. Traumlehren insgesamt. Heinrichs „Warntraum mit dem Motiv der gestörten sozialen Ordnung“ wird dann sehr einleuchtend in die Probleme der englischen Thronfolge eingeordnet, offenbart aber auch ein Netzwerk zeitgenössischer, medizin-basierter Astronomen, Astrologen und Prognostiker im Umfeld des Königs und der englischen Klöster als Vermittler der arabischen und Salernitaner Medizin. – Johannes Traulsen, Gesicht und Schwert. Formen und Funktionen von Visionen in der Karlsepik (S. 393–409, 3 Abb.), befasst sich mit den deutschsprachigen ma. Texten, die von Engelserscheinungen Karls d. Gr. als Initialzündung zu seinem Spanien-Feldzug berichten, und bezieht ihre unterschiedlichen Schwerpunkte auf die jeweilige herrschaftspolitische Situation. So wird der Karl des Stricker in Beziehung gesetzt zum Rolandslied des Pfaffen Konrad; der Codex 302 der Vadianischen Sammlung in St. Gallen mit dem Stricker und der Weltchronik des Rudolf von Ems wird auch mittels seines Bildprogramms analysiert. Der zum Feldzug aufrufende Engel spielt in allen drei Versionen eine entscheidende Rolle. – Felicitas Schmieder, Visionen und ihre Kontexte. Die Kodifizierung, Autorisierung und Authentisierung von Offenbarung. Eine Zusammenfassung (S. 437–446), spiegelt die einzelnen Beiträge an der Expositio in Apocalypsim des Alexander Minorita, der allerdings im Band nicht eigens behandelt wurde, und verweist dabei auf die große geistige Weite, die gerade in der Vielfalt der Aneignungen von Visionen im MA bestand, der gegenüber die moderne philologische, philosophische und auch theologische „aufgeklärte“ Rigidität als verengte Sicht erscheinen kann. – Insgesamt ein anregender Band, der sich einem epochenübergreifenden Phänomen widmet, es nicht in das Schema „wahr oder falsch“ presst, sondern seinen kulturellen Resonanzraum erschließen will. Dabei wird sehr deutlich, dass die vielfältig überlieferten Berichte im Rezeptionsprozess erheblich verändert und in neue Erzählrahmen eingeordnet wurden, also im Gegensatz von wirklichen „Offenbarungen“ im Sinne der „heiligen“ biblischen Texte flexibel gebraucht und veränderten Milieus angepasst werden konnten und wurden und gerade deswegen historisch interessant sein können. Einzelne Beiträge wirken dabei allerdings etwas angestrengt und anstrengend. Wie anders als hermetisch soll man einen Satz wie den folgenden bezeichnen: „Dabei versucht der vorliegende Beitrag, die sich über Akte des Visionären ergebende ‘Ereignishaftigkeit’ auch für die Legendarik allein auf der Ebene der Technizität eines narrativen Effekts zu beschreiben, der als Faktor die Diegese des jeweiligen Einzeltexts in spezifischer Weise formatiert“ (S. 300)?
Herbert Schneider