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Origin Legends in Early Medieval Western Europe, ed. by Lindy Brady / Patrick Wadden (Reading Medieval Sources 6) Leiden 2022, Brill, XII u. 474 S., Abb., Tab., ISBN 978-90-04-40036-8, EUR 211,86.– Die Forschung zu Ursprungslegenden frühma. gentes hat in den letzten Jahrzehnten in Geschichtswissenschaft, Literatur- und Kunstgeschichte massiven Aufschwung erfahren. Dass es an der Zeit ist, grundlegende Ergebnisse und neue Ansätze der verschiedenen Disziplinen in einem Band zusammenzuführen, legen die Hg. in der Einleitung (S. 1–22) dar. 17 Beiträge sind in drei Sektionen gegliedert. Teil I (Regions) führt in das Textcorpus der jeweiligen Gebiete ein. Teil II (Themes) geht auf wiederkehrende Themen ein und rückt diese in ein neues Licht. Teil III (Approaches) stellt disziplinäre, methodologische und theoretische Ansätze vor. In der ersten Sektion macht Erica Buchberger, Origin Legends of Visigothic Spain in Isidore of Sevilleʼs Writings (S. 25–45), den Anfang und fragt nach Isidors Erzählstrategie, mit der er in der Historia Gothorum und den Etymologiae die Herrschaft der Westgoten auf der Iberischen Halbinsel herleitet. Sie kommt zu dem Schluss, dass Isidor Machtansprüche durch hohes Alter begründet, wofür er konsequent antike Quellen umdeutet, um eine Verwandtschaft der Goten mit den Skythen und Geten sowie den biblischen Völkern Gog und Magog zu konstruieren. – Thomas M. Charles-Edwards, Origin Legends in Ireland and Celtic Britain (S. 46–74), vergleicht die zwischen dem 7. und 9. Jh. entstandenen Origines gentium der Iren und Briten hinsichtlich Inhalt, wiederkehrenden Motiven, Rezeption und politischer Instrumentalisierung. – Marios Costambeys, Origin Legends in Italy in the Early Middle Ages (S. 75–108), macht anhand erzählender Quellen deutlich, dass es nicht die eine Ursprungslegende ‘der Italiener’ gab, sondern dass Goten, Langobarden und Römer jeweils eigene lokale und regionale Identitäten in dem von Migration geprägten Gebiet südlich der Alpen ausgebildet haben. – Statt Unterschiede hervorzuheben, betont Judith Jesch, Origin Stories in the Viking Diaspora – Norway, Iceland, Orkney (S. 109–134), Gemeinsamkeiten und intertextuelle Bezüge in altnordischen Quellen des 12.–14. Jh., die von der engen, auf wikingerzeitliche Expansionsbewegungen zurückgehenden Verbindung zwischen den drei Herrschaftsräumen Island, Orkney und Norwegen zeugen. – Robert Kasperski, The Origin Legend of the Goths in the Getica by Jordanes (S. 135–155), versteht die Getica als ein Werk mit ideologischer Botschaft. Jordanes charakterisiere die Goten als eine den Griechen vergleichbare Hochkultur, woraus sich letztlich ihr Recht ableite, auf römischen Grund und Boden zu leben. – Helmut Reimitz, The Early History of Frankish Origin Legends, c.500–800 C.E. (S. 156–183), nimmt sich die soziale Funktion der fränkischen Ursprungslegende bei Gregor von Tours, in der Fredegar-Chronik und im Liber Historiae Francorum vor. Er diskutiert die jeweils an den zeitgenössischen politischen Kontext angepassten Inhalte und greift den von Walter Pohl in den Diskurs eingebrachten Focaultschen Begriff der „Spielräume“ auf. – Den Auftakt zur zweiten Sektion macht Michael Clarke, The Legend of Trojan Origins in the Later Middle Ages: Texts and Tapestries (S. 187–212), der sich dem Haus Valois-Burgund und damit der frankophonen Welt zuwendet. Er weist nach, dass unter dem französischen Königshaus die Trojalegende, wie sie Dares Phrygius in De excidio Troiae historia erzählt, Eingang in die Tapisseriekunst gefunden hat, weniger um dekorativen Ansprüchen zu genügen, als vielmehr um adeliges Selbstbewusstsein zu artikulieren. – Catherine E. Karkov, Fallen Angels and the Island Paradise (S. 213–238), interpretiert die mit Weinreben ornamentierten Steinkreuze aus Northumbrien als materielle Ausprägung der seit dem 7./8. Jh. in schriftlichen Quellen aufkommenden Auffassung, Britannien sei ein neues, den angelsächsischen Siedlern vorbehaltenes Paradies. – Conor O’Brien, The New Israel Motif in Early Medieval Origin Legends (S. 239–258), stellt sich gegen die bisherige Forschung, indem er in den Origines gentium der Franken, Iren und Angelsachsen Bezüge zum Alten Testament isoliert und daran exemplarisch aufzeigt, dass diese Passagen bisher zu einseitig als Versuch der jeweiligen gentes gedeutet wurden, sich mit den Israeliten zu identifizieren. – Robert W. Rix, Out-of-Scandinavia: New Perspectives on Barbarian Identity (S. 259–280), verfolgt die Wanderung des Motivs einer nordischen bzw. skandinavischen Herkunft der gentes, das sich im Zeitraum vom 6. bis zum 13. Jh. von Konstantinopel bis nach Island und Dänemark quer durch Europa verbreitet hat. – Shami Ghosh, Oral Tradition and Origin Legends (S. 281–301), stellt grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Oralität und Schriftlichkeit an. Er gibt zu bedenken, dass die Erforschung mündlicher Überlieferung zwangsläufig hypothetisch bleiben muss. Es sei davon auszugehen, dass mit der Verschriftlichung einer Erzählung diese nicht nur von der Volkssprache ins Lateinische übersetzt, sondern vermutlich auch mit narrativen Strukturen und Topoi versehen wurde, die in der oralen Fassung wahrscheinlich nicht vorhanden waren. – Die dritte Sektion eröffnet Katherine Cross, Origin Legends and Objects (S. 305–337), die anhand von Darstellungen auf frühma. Münzen, dem Runenkästchen von Auzon und dem Horn des Ulf eine mögliche Korrelation zwischen schriftlichen und materiellen Quellen diskutiert und davor warnt, moderne Sichtweisen auf diese Objekte zu projizieren. – Helen Fulton, Historiography and the Invention of British Identity: Troy as an Origin Legend in Medieval Britain and Ireland (S. 338–362), macht deutlich, dass Iren und Waliser den Trojamythos unterschiedlich instrumentalisierten. Gemeinsam sei ihnen aber, dass sie aus einer geschwächten Machtposition heraus versucht hätten, ein Nationalbewusstsein zu schaffen, das in Opposition zur imperialen Macht der Normannen stünde. – Ben Guy, Origin Legends and Genealogy (S. 363–384), versteht Genealogien als Brücke zwischen der Gegenwart der Schreibenden und der Vergangenheit derer, über die geschrieben wird. – John D. Niles, Myths of the Eastern Origins of the Franks: Fictions or a Kind of Truth? (S. 385–404), geht davon aus, dass die Ursprungslegende der Franken, wie sie bei Gregor von Tours, in den Fredegar-Chroniken und dem Liber Historiae Francorum vorkommt, einen wahren Kern hat, der in Richtung der Stammesverbände der eurasischen Steppe weist. Archäologische Funde, insbesondere Anlage und Beigaben des Grabmals des fränkischen Königs Childerich in Tournai, ließen auf diplomatische Beziehungen zu den Hunnen schließen. – Alheydis Plassmann, Origines gentium and the Long Shadow of Rome (S. 405–423), führt einerseits in die wichtigsten Entwicklungen der Forschung ein und arbeitet andererseits die Beziehung zu Rom als elementaren Bestandteil nahezu aller Ursprungslegenden heraus, bedingt durch die Transformation der römischen Welt und das dadurch entstandene Bedürfnis nach Identität und Legitimität. – Andrew Rabin, Myth, Memory, and the Early History of the Diocese of Tours in Gregory’s Decem libri historiarum (S. 424–443), zeigt, dass Passagen aus Gregors von Tours Hauptwerk nicht nur als Ursprungslegende der Franken gelesen werden können, sondern auch die Ursprünge von Tours (Origo Turonensis) legitimieren sollten. – Eine Zusammenfassung durch die Hg. (S. 444–464) und ein kombiniertes Orts-, Personen-, Sach- und Werkregister (465–474) beschließen den Band, dessen Verdienst es zweifellos ist, eine aktuelle Bilanz zur Origines gentium-Forschung zu ziehen.

A. N.