DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 81,1 (2025) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

Iñaki Martín Viso (ed.), Los procesos de formación del feudalismo. La península ibérica en el contexto europeo (Colección Piedras angulares) Somonte-Cenero 2023, Ediciones Trea, 338 S., ISBN 978-84-19525-87-1, EUR 29. – Nach der jüngeren, zunächst vor allem in Frankreich und Deutschland geführten und auf Kerneuropa (Frankreich, Deutschland und Italien) fokussierten Debatte um die sogenannte „mutation féodale“ um das Jahr 1000 scheint das Thema ‘Feudalismus’, ein Klassiker der internationalen MA-Forschung, nun auch im Südwesten Europas neu angekommen zu sein. Zwar hatten Abilio Barbero und Marcelo Vigil schon 1978 mit ihrer Monographie La formación del feudalismo en la Península Ibérica eine in Spanien sehr einflussreiche Publikation veröffentlicht, doch wirkte diese wenig über die iberische Forschung hinaus. Der hier zu besprechende Band versucht nun, nach zwei bereits 1999 und 2002 in Toulouse bzw. Conques unternommenen Versuchen eines noch mehr mediterranen Vergleichs, das Blatt zu wenden, indem er die ‘feudalen Verhältnisse’ in den verschiedenen Regionen und Herrschaftsformationen der Iberischen Halbinsel im europäischen Vergleich zu akzentuieren und aktualisieren sucht. Nach der Präsentation und Einführung in das Thema durch den Hg. (S. 9–12 und 13–42) werden in einem ersten Hauptteil zunächst der aktuelle Stand und neue Tendenzen der Forschung in verschiedenen europäischen Ländern bzw. Regionen jenseits der Iberischen Halbinsel vorgestellt, nämlich im postkarolingischen Frankenreich westlich und östlich des Rheins (Geneviève Bührer-Thierry, S. 45–61), im früh- bis hochma. Mittel- und Norditalien (Maria Elena Cortese, S. 63–85), und im Frankreich des 11. Jh. (Charles West, S. 87–100), bevor in zwei weiteren Kapiteln die Erforschung des ‘Feudalismus’ mit Studien zu Vorformen von ‘Staat’ und ‘Nation’ im MA in Beziehung gesetzt wird (Álvaro Carvajal Castro / Carlos Tejerizo-García, S. 101–122, und Diego Carlo Améndolla Spínola, S. 123–137). In einem zweiten Hauptteil werden die Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel vorgestellt, wobei sich hier drei Überblicke und drei Kapitel zu einzelnen Regionen mit einer Spezialstudie abwechseln. Neben ‘politischen’ Charakterisierungen des ‘proto-feudalen’ Reichs der Westgoten (Pablo C. Díaz / Pablo Poveda Arias, S. 141–168) und seines post-westgotischen Folgereichs Asturien (Luis R. Menéndez Bueyes, S. 169–190) sowie einer Studie zur Salzproduktion in den nördlichen Regionen der Iberischen Halbinsel während des 10. Jh. (Robert Portass, S. 191–219) werden das Vorhandensein oder Fehlen von Merkmalen des ‘Feudalismus’ im Gebiet zwischen Kantabrien, den Pyrenäen und dem Ebro (Juan José Larrea, S. 221–244), in Aragón (Carlos Laliena Corbera / Guillermo Tomás Faci, S. 245–263) und in al-Andalus (Alejandro García Sanjuán, S. 265–288) erörtert, bevor in einer Spezialstudie das ‘feudale’ Gefangenenwesen in Galicien am Beispiel von Celanova während des 10. und 11. Jh. untersucht wird (Abel Lorenzo-Rodríguez, S. 289–293). Der Schlussteil behandelt die Frage, ob man von ‘Feudalismus’ oder ‘Feudalismen’ sprechen sollte (Carlos de Ayala Martínez, S. 297–302), ordnet den Klassiker von Barbero / Vigil in die Forschungsgeschichte ein (Amancio Isla, S. 303–314) und skizziert die historiographische Entwicklung des Konzepts ‘Feudalismus’ (Julio Escalona, S. 315–327), bevor der Hg. eine Zusammenfassung der Inhalte der Beiträge liefert (S. 329–338). Während das Fehlen eines Kapitels zu Katalonien angeblich auf missliche Umstände zurückzuführen ist (S. 12) – auch das im Internet veröffentlichte Kongressprogramm vom 12.–13. September 2019 enthält jedenfalls keinen diesbezüglichen Vortrag –, sind weitere Regionen zwischen Nord- bzw. Mittelfrankreich und der iberischen Welt jenseits von Katalonien, die inzwischen intensiv erforscht worden sind, nicht berücksichtigt, so etwa das Languedoc oder das Rouergue, zu denen Hélène Débax (nur kurz erwähnt S. 244 Anm. 95) und Frédéric de Gournay in den Jahren 2003 bzw. 2004 jeweils umfängliche Monographien vorgelegt haben (vgl. DA 61, 354). Offenkundig sind diese südfranzösischen Regionalforschungen bislang nicht hinreichend in den Blick eines europäischen Vergleichs geraten. Der Band belegt den inzwischen erreichten Konsens, dass es kein einheitliches Modell von ‘Feudalismus’ gab, sondern dass man die einzelnen, je nach regionaler oder lokaler Gesellschaft unterschiedlichen ‘feudalen Prozesse’ studieren muss, um mittels des historiographischen Konzepts ‘Feudalismus’ die schillernde Vielfalt der historischen Phänomene besser zu verstehen. Die Zukunft der Forschung in diesem Feld liegt in der Durchführung von Mikrostudien regionalen, wenn nicht lokalen Zuschnitts, die freilich ohne Mehrwert bleiben werden, solange sie nicht in einen überregionalen, europäischen Vergleich eingebettet werden. Die Aufgabe besteht also in der Dekonstruktion eines ererbten historiographischen Konzepts, dessen Fragwürdigkeit seit langem erkannt ist. Welches Publikum versucht der Band zu erreichen? Auch wenn es generell positiv zu bewerten ist, dass die Publikation multilingual ist, dürften die überwiegend auf Spanisch (14 von 18) geschriebenen Beiträge (weitere Sprachen sind Französisch, Italienisch und Englisch) die Rezeptionschancen eher verringern. Denn wenn die Absicht bestand, die auf internationaler Ebene eher unbekannten historischen Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel und ihre dortige frühere bis gegenwärtige Erforschung bekannter zu machen, so hätte sich eine allein englischsprachige Veröffentlichung angeboten. Aber selbst für ein ausschließlich spanischsprachiges Publikum erscheint der Band wenig attraktiv, fehlt ihm doch nicht nur eine Gesamtbibliographie oder zumindest eine Spezialbibliographie zum Thema ‘Feudalismus’, sondern insbesondere ein Register der Personen, Orte, Sachen und Begriffe, das ihm einen nützlichen analytischen Zugriff zu Thema und Inhalten verschafft und damit einen ersten Schritt zu einer echten europäischen Perspektive ermöglicht hätte.

Matthias M. Tischler