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Sophie Fendel, Physiologus- und Bestiarienrezeption in Nordeuropa. Wege eines Kulturtransfers (Ergänzungsbde. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 143) Berlin / Boston 2024, De Gruyter, VIII u. 429 S., 75 Abb., ISBN 978-3-11-134205-4, EUR 119,95. – Der in der Spätantike ursprünglich in griechischer Sprache verfasste Katalog von Naturphänomenen (Tiere, Pflanzen, Steine) wurde alsbald ins Lateinische übersetzt. Es werden tatsächliche oder vermeintliche Eigenschaften und Verhaltensweisen geschildert und allegorisch-theologisch gedeutet. Lateinische Versionen bilden die Grundlagen für eine Reihe von Übertragungen in frühma. Volkssprachen, darunter auch das Altisländische, die Gegenstand der vorliegenden Monographie sind. Fragmente zweier Versionen aus dem 12. Jh. gehören zu den frühesten Denkmälern des (Alt-)Isländischen. Gleichzeitig sind sie die ältesten bebilderten Hss. mit Texten in dieser nordgermanischen Volkssprache. – Kap. 1 gibt einen umfassenden Forschungsbericht. Kap. 2 handelt allgemein von „kulturellem Transfer und Übersetzen im Mittelalter“ und gibt einen Überblick über die vor-volkssprachliche lateinische Überlieferung. Kap. 3 thematisiert die beiden altisländischen Fragmente. Zunächst (3.1) stellt die Vf. Überlegungen darüber an, von wem (dem nachmaligen Bischof Páll Jónsson?) das Physiologus-Material woher (aus Lincoln in England?) nach Island gebracht worden sein kann, und trägt dafür ernstzunehmende Indizien zusammen. Nicht nur der Zeitansatz (die Fragmente entstanden um 1200), sondern auch Pálls England-Verbindungen und seine persönlichen künstlerischen Interessen, über die wir aus seiner Vita (Páls saga byskups) informiert sind, sprechen dafür. Ein weiteres Indiz für die ursprüngliche Verbindung nach England bietet die Ikonographie: Es bestehen auffällige Übereinstimmungen mit dem englischen Worksop-Bestiary, wie überhaupt ikonographische Parallelen nach England weisen. Auffallend ist, dass in manchen Fällen missdeutete Illustrationen Anlass zu Eingriffen in den Text gegeben haben. In Kap. 4 verfolgt F. Spuren des ikonographischen Nachlebens der Illustration insbesondere des Fragments B im skandinavischen Raum. Das umfangreiche Kap. 5 unternimmt „eine Spurensuche“ nach Physiologus- und Bestiarien-Reminiszenzen in den ma. Literaturen des Nordens, wobei eine Schwierigkeit darin besteht, dass „naturkundliche“ Aussagen in der Literatur nicht notwendig aus dem Physiologus oder einem Bestiarium übernommen sein müssen, sondern auch aus anderen inhaltsähnlichen Werken (z.B. Isidor, Vincenz von Beauvais) bezogen sein können. Die „Spurensuche“ beginnt bei der Stjórn, einer kompilierenden Kommentierung der beiden ersten Bücher des Alten Testaments (13./14. Jh.), und wird fortgesetzt in weiterem religiösen (homiletischen) Schrifttum sowie in Fornaldar- und Riddara-Sagas. Hier kann die Vf. eine Reihe von inhaltlichen Parallelen zum Physiologus und zu Bestiarien namhaft machen. – Hinter den stoff- und kenntnisreichen ikonographischen sowie stoffgeschichtlichen Ausführungen tritt die philologische Auseinandersetzung mit den beiden altisländischen Physiologus-Fragmenten selbst deutlich zurück. Wo bestehen inhaltliche Parallelen/Divergenzen gegenüber lateinischen und anderen volkssprachigen Physiologus-Versionen? – Der Bildanhang umfasst 75 vorzügliche Reproduktionen von Tierabbildungen aus diversen Hss. – Da im letzten Anhang (S. 383–387) die beiden altisländischen Fragmente nur in Übersetzung wiedergegeben sind, fragt man sich, warum nicht gleich die Gelegenheit zu einer kritischen und kommentierenden Neuedition der Originaltexte genutzt worden ist (der natürlich die Übersetzung hätte beigegeben werden können). Die Zitierausgaben von Dahlerup und Hermansson stammen von 1889 bzw. 1938. – Recht aufgesetzt wirkt im gegebenen Zusammenhang das Bemühen „um geschlechtsneutrale Formulierungen“, die unreflektierte Redeweise vom „männlich dominierten Mittelalter“ und der Verweis auf mögliche „andere Geschlechtsidentitäten“ (S. 4). Für klösterliche Bildungsstätten im isländischen MA von „Studierenden“ (z.B. S. 42) zu sprechen, ist Unsinn: Es waren männliche Studenten. Auch eine ansonsten kenntnisreiche und solide Arbeit ist im heutigen akademischen Umfeld nicht gegen Zeitgeistsprech gefeit.

Hans Ulrich Schmid